Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
gesessen hatte, war durchgegangen, als die Räuber angriffen, und so hatten sie einander aus den Augen verloren. Verzweifelt hatte Chaya sich selbst in Sicherheit zu bringen und dabei gleichzeitig nach ihrem Vater Ausschau zu halten versucht, ihn inmitten von Staub und Getümmel jedoch nicht ausmachen können. Erst jetzt fand sie ihn.
Zu spät.
»V ater«, schluchzte Chaya abermals, während sie verzweifelt überlegte, wie sie die Blutung stillen konnte. Aber das wenige, was ihre Mutter ihr über die Heilkunst beigebracht hatte, würde nicht ausreichen, um die Wunde zu verschließen, die die Klinge des Mordbrenners geschlagen hatte. Der alte Isaac war dem Tod geweiht, der schon jetzt mit klammer Hand nach ihm griff.
»Chaya«, murmelte der Kaufmann, wobei seine blutigen Hände nach den ihren tasteten. Seine Augen waren leer, und sie wusste nicht, ob er sie überhaupt noch sehen konnte.
»Ich bin hier, Vater«, flüsterte sie deshalb und ergriff seine Hände – und erschrak insgeheim darüber, wie kalt sie bereits waren. Dennoch schien ihn die Berührung zu beruhigen. Sein Atem, eben noch keuchend und stoßweise, wurde gleichmäßiger.
»Sei … sei nicht traurig, mein Kind«, presste er mühsam h ervor. »Ich werde deine Mutter wiedersehen … werden wieder vereint sein vor Gottes Angesicht.«
»I-ich weiß, Vater«, hauchte sie. Tränen quollen aus ihren Augen.
»Bedaure nur, dass Mission nicht zu Ende … nun an dir, Aufgabe zu erfüllen …« Er ließ sie los und wühlte sich mit bebenden Händen unter seine zerschlissene Robe. Als sie wieder zum Vorschein kamen, umklammerten sie den Köcher mit dem Buch von Ascalon. Das Leder war blutbesudelt. »Nimm es an dich, Tochter. Nun ist es an dir … zu Ende zu bringen, was vor langer Zeit begonnen …«
»Aber ich bin kein Träger wie du, Vater«, wandte Chaya entsetzt ein. Der Gedanke, mit dieser Aufgabe allein und auf sich gestellt zu sein, ängstigte sie zu Tode.
»Doch, das bist du«, widersprach der alte Isaac. Obwohl das Leben mit jedem Augenblick mehr aus ihm wich, brachte er ein mattes Lächeln zustande. »Kennst das Geheimnis … ebenso gut wie ich.«
In ihrer Verzweiflung brauchte sie einen Moment, um zu begreifen. »Du … du weißt es?«, fragte sie fassungslos. »Du weißt, dass ich das Buch gelesen habe?«
»Schon lange. Anfangs darüber gegrämt … aber nun weiß ich, nur deiner Bestimmung gefolgt … Nimm das Buch, Chaya. Nimm es an dich und bringe zu Ende, was mir nicht …« Er verstummte, als eine Woge von Schmerz durch seinen gepeinigten Körper fuhr. Seine Gesichtszüge verzerrten sich. Dennoch behielt er den Köcher fest in den Händen. Als sich seine Glieder wieder entkrampften, reichte er ihn Chaya.
Zögernd nahm sie das Behältnis entgegen – um unverhoffte Zuversicht zu fühlen, als sie das alte Leder berührte, so als ob eine unsichtbare Kraft von dem alten Gegenstand ausging, die sie erst in dem Augenblick spürte, als sie ihn zum ersten Mal rechtens in ihren Händen hielt, als seine neue Trägerin.
»Sei unbesorgt, Vater«, versicherte Chaya mit einer Ruhe, deren Ursprung sie selbst nicht zu ergründen vermochte. »Ich w erde die Schrift mit meinem Leben beschützen. Und ich werde nicht zulassen, dass Ar …«
»Sprich den Namen nicht aus«, beschwor ihr Vater sie in einem letzten Aufbäumen verbliebener Lebenskraft. Seine Augen weiteten sich dabei, und er starrte sie eindringlich an. »V ertraue niemandem und offenbare das Geheimnis keinem Unwissenden, sei er nun jüdischen oder anderen Glaubens, hörst du?«
»Ich verspreche es«, erwiderte sie, nun wieder mit den Tränen ringend. Dabei schob sie den Behälter unter ihr eigenes Gewand, wo sie ihn von nun an tragen würde.
»Du musst dafür sorgen, dass das Buch … Antiochia erreicht«, fuhr ihr Vater stockend fort. »Ezra wird wissen … was damit zu geschehen …«
Seine Worte gingen in ein langgezogenes Stöhnen über. Erneut verzerrten sich seine Züge vor Schmerz. Als er die Augen wieder öffnete, war sein Blick fliehend und gehetzt, so als ob ihm klar wäre, dass ihm nur noch wenige Herzschläge blieben.
»Gräme dich nicht, meine Tochter«, sagte er, als er ihre Tränen bemerkte, »denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei, die Blumen zeigen sich im Lande …«
Trotz ihrer Trauer und Verzweiflung musste Chaya lächeln, als sie ihn jenen Satz aus dem Hohelied Salomons rezitieren hörte, der die Lieblingsstelle ihrer Mutter gewesen war. Noch
Weitere Kostenlose Bücher