Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
gab, leise zu sein. Ein morscher Zweig, auf den er trat, knackte geräuschvoll, worauf eine Stimme aus dem Inneren drang und in einer fremden Sprache etwas fragte.
Conn erkannte Chayas Stimme kaum wieder. Nicht nur, weil sie den männlichen Besitzer vorzugaukeln suchte, sondern auch, weil sie brüchig und halb erstickt von Tränen war.
»Ich bin es«, sagte er leise. »Conwulf. Darf ich eintreten?«
Es gab keine Zustimmung, aber auch keinen Widerspruch, also fasste er sich ein Herz, schlug die Decke vor dem Eingang beiseite, bückte sich und trat ein. Das Innere des Zeltes, das gerade groß genug war, um zwei Menschen Platz zu bieten, wurde von einer spärlichen, von Öl genährten Flamme beleuchtet. Zwei Decken lagen auf dem Boden. Die eine war noch zusammengerollt. Auf der anderen kauerte Chaya, in sich zusammengesunken und das Gesicht in den Handflächen vergraben.
Sie so zu sehen versetzte Conn einen schmerzhaften Stich. Dennoch wagte er nicht, sich zu ihr zu setzen und sie zu trösten. Stattdessen ließ er sich einfach nur am Zelteingang nieder und wartete. Augenblicke verstrichen, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Obwohl er Chaya kaum kannte, obwohl e r nichts über sie wusste und sie noch nicht einmal denselben Glauben teilten, brachte es ihn halb um, sie derart leiden zu sehen. Ein himmelschreiendes Unrecht war geschehen, das ihren Vater das Leben gekostet hatte, und alles in ihm verlangte danach, ihr zu sagen, wie sehr er mit ihr fühlte und wie genau er wusste, welchen Schmerz sie empfand.
Aber konnte er das?
Conn war weder ein Denker wie Baldric, noch verfügte er über Bertrands Redefluss. Musste er mit allem, was er sagte, nicht fürchten, Chaya noch mehr zu verletzen und ihren Schmerz zu vergrößern? Er schwieg lieber und wartete, lauschte ihrem leisen Wimmern. Conn ahnte, wie einsam sie sich fühlen musste, wie verloren und verlassen – und auch das konnte er ihr wohl besser nachfühlen als jeder andere im Lager.
Irgendwann fragte er sich, ob sie seine Anwesenheit überhaupt bewusst zur Kenntnis genommen hatte. Er wollte ihre Trauer nicht stören, sie aber auch nicht alleinlassen in ihrem Schmerz. Obwohl – was konnte er schon tun, außer dazusitzen, angewurzelt und stumm wie ein Stück Holz?
»W ir … wir mussten ihn begraben«, brach Chaya plötzlich ihr Schweigen. Ihr Antlitz hielt sie gesenkt und mit den Händen bedeckt, so als schämte sie sich ihrer Tränen. »Noch am Abend. Wegen der Hitze … und der Tiere.«
»Ich weiß«, sagte Conn beklommen. Er hatte selbst dabei geholfen, die Grube auszuheben, in die die Opfer des Überfalls gelegt worden waren, unter ihnen auch der alte Isaac, aber natürlich hatte sie in ihrem Schmerz davon nichts mitbekommen. Im Gegenteil hatte sie nach ihrem ersten Zusammenbruch alles darangesetzt, den Schein zu wahren und wieder die Rolle des Dieners zu spielen. Eines Dieners freilich, der seinen Herrn verloren hatte.
Conn wünschte sich, ein wenig von Berengars Gabe zu besitzen, in jedweder Situation den treffenden Ton zu finden. Hingegen kam ihm alles, was er selbst hervorbrachte, plump und bäuerisch vor. Wie konnte er hoffen, Chaya Trost zuzu s prechen, wenn er nach Worten tasten musste wie ein Blinder nach dem Weg?
»In unserem Glauben«, fuhr sie schluchzend fort, »warten wir gewöhnlich drei Tage, bis wir die Toten bestatten. Aus Respekt. Und auch um ihrer Seelen willen.«
»Auch wir Christen halten es so«, sagte Conn. »Meistens jedenfalls«, fügte er in Erinnerung an Tostig und all die armen Teufel hinzu, die auf der Henkersweide von London ein unrühmliches Ende gefunden und die man noch am selben Tag verscharrt hatte.
Zum ersten Mal regte sich Chaya. Schließlich hob sie den Kopf und schaute auf. Ihre Züge, die seit ihrer Begegnung in Genua noch schmaler geworden waren, waren gerötet, ebenso wie ihre Augen, um die sich dunkle Ränder gebildet hatten. Der Fluss ihrer Tränen schien zu stocken. Womöglich, dachte Conn, hatte sie jenen dunklen Ort erreicht, der jenseits des Schmerzes und der Trauer lag und an dem selbst die Tränen versiegten. Auch er war dort gewesen.
»Conwulf«, hauchte sie.
»Ja?«
»Ich habe Euch noch nicht gedankt.«
»Das braucht Ihr nicht«, entgegnete er und hob demonstrativ die linke Hand. »Auch Ihr habt mich gerettet, wisst Ihr nicht mehr? Und anders als ich seid Ihr nicht zu spät gekommen«, fügte er hinzu und blickte zu Boden. Er brachte es nicht fertig, ihr weiter in die Augen zu schauen,
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