Das Chagrinleder (German Edition)
einstimmig die Notwendigkeit einer sofortigen Behandlung mit Blutegeln in der Magengegend anerkannt. Ferner ist es nötig, Ihr Leiden zugleich physisch und psychisch zu behandeln. Zunächst eine passende Diät, um die Reizung Ihres Organismus zu beruhigen ...«
Hier machte Brisset ein Zeichen der Zustimmung.
»Dann eine hygienische Lebensweise, um auf Ihre geistige Verfassung einzuwirken. Wir raten Ihnen also einstimmig, nach Aix in Savoyen zu reisen oder ein Bad am Mont-Dore in der Auvergne aufzusuchen; die Luft und die Lage von Savoyen sind angenehmer als die des Cantal, [Fußnote: Cantal : höchster Gipfel in der Auvergne] aber wir überlassen das Ihrem Gutdünken.«
Hier war ein Kopfnicken des Doktor Caméristus zu verzeichnen.
»Diese Herren«, fuhr Bianchon fort, »haben in Ihrem Atmungsapparat leichte Veränderungen bemerkt und haben einhellig meinen bisherigen Vorschriften zugestimmt. Sie sind der Meinung, daß Ihre Heilung nicht schwer sein wird und von einem klugen Wechsel in der Anwendung dieser verschiedenen Mittel wesentlich abhängt ... Und ...«
»Und nun sind wir so klug wie vorher!« sagte Raphael lächelnd, während er Horace in sein Arbeitszimmer führte, um ihm das Honorar für die überflüssige Konsultation auszuhändigen.
»Sie sind logisch«, antwortete ihm der junge Mediziner; »Caméristus empfindet, Brisset untersucht, Maugredie zweifelt. Hat nicht der Mensch eine Seele, einen Körper und einen Verstand? Eine dieser drei Grundursachen wirkt in uns immer mehr oder weniger stark, und die menschliche Wissenschaft wird eben immer eine menschliche sein. Glaub mir, Raphael, wir heilen nicht, wir helfen der Heilung! Zwischen der Heilkunst Brissets und der von Caméristus gibt es noch die abwartende Methode, [Fußnote: Methode, die den Selbstheilungsprozeß der Natur beobachtet und unterstützt.] aber um die mit Erfolg anzuwenden, müßte man seinen Patienten seit zehn Jahren kennen. Die Medizin basiert auf Negation, wie alle Wissenschaften. Versuch also, vernünftig zu leben, mach eine Reise nach Savoyen! Es ist das beste und wird es immer bleiben, sich der Natur anzuvertrauen.«
Einen Monat später waren an einem schönen Sommerabend einige Badegäste von Aix nach der Rückkehr von der Promenade in den Salons des Kurhauses versammelt. Raphael saß an einem Fenster und wandte der Gesellschaft den Rücken. So saß er lange allein; er war in ein stumpfes Brüten versunken, in dem unsere Gedanken kommen, sich verschlingen und verlöschen, ohne rechte Gestalt anzunehmen, und wie leichte kaum gefärbte Wolken in uns verfliegen. Die Trauer ist in diesem Zustand sanft, die Freude schemenhaft, und die Seele schlummert. So überließ sich Valentin diesem Leben der Sinne, erquickte sich an der lauen Atmosphäre des Abends und sog die reine, würzige Bergluft ein. Er war glücklich, keinen Schmerz zu fühlen und sein drohendes Chagrinleder endlich zur Ruhe gebracht zu haben. Die roten Töne der Abenddämmerung erloschen auf den Gipfeln, es wurde kühler. Er verließ seinen Platz und schloß das Fenster.
»Haben Sie die Güte, Monsieur«, sagte eine alte Dame zu ihm, »das Fenster nicht zu schließen! Wir ersticken.«
Dieser Satz klang Raphael seltsam schrill und widerwärtig im Ohr; er war wie das Wort, das einem Freund, auf den wir bauten, unvorsichtig entschlüpft und das den süßen Wahn der Freundschaft zerreißt und uns in einen Abgrund des Egoismus blicken läßt. Der Marquis warf der alten Dame den kühlen Blick eines unzugänglichen Diplomaten zu, rief dann einen Diener und befahl diesem trocken: »Öffnen Sie das Fenster!«
Bei diesen Worten breitete sich auf allen Gesichtern lebhaftes Befremden aus. In der Gesellschaft entstand ein Geflüster, und man blickte den Kranken mit mehr oder weniger beredter Miene an, als hätte er sich sehr unziemlich benommen. Raphael, der seine frühere Jünglingsschüchternheit noch nicht abgelegt hatte, spürte eine Regung von Scham; aber er schüttelte seine Erstarrung ab, gewann seine Energie zurück und fragte sich, was diese seltsame Szene wohl bedeute. Blitzartig kam Leben in seine Gedanken, die Vergangenheit erschien ihm in einer deutlichen Vision: die Ursachen der Gefühle, die er hervorrief, sprangen scharf hervor wie die Adern eines Leichnams, an dem die Präparatoren durch eine zweckdienliche Einspritzung die geringsten Verästelungen gefärbt haben; er sah sich selbst in diesem flüchtigen Bilde, verfolgte sein Leben, Tag für Tag, Gedanken für
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