Das Chagrinleder (German Edition)
materiell, unteilbar und roh; mit der ständig wachsenden Zahl der Menschen haben die Regierungen dann allmählich eine mehr oder weniger geschickte Teilung der ursprünglichen Macht vorgenommen. Im frühen Altertum herrschte die Theokratie; der Priester führte das Schwert und das Weihrauchfaß. Später gab es zwei heilige Ämter: den Pontifex und den König. Heute, am Endpunkt der Zivilisation, hat unsere Gesellschaft die Macht den Einflußbereichen gemäß aufgeteilt, und wir haben nun Machtgruppen, die da heißen: Industrie, Gedanke, Geld, Wort. Die Macht, die keine Einheit mehr hat, schreitet unaufhörlich einer sozialen Auflösung entgegen, der nur noch vom Eigennutz eine Schranke gesetzt wird. Demnach stützen wir uns weder mehr auf die Religion noch auf die materielle Gewalt, sondern auf den Verstand. Wiegt das Buch das Schwert auf, das Wort die Tat? Das ist das Problem.«
»Der Verstand hat alles getötet!« rief der Karlist. »Hören
a name="page65" title="sunnymoon/TS" id="page65"> Sie auf, die unbeschränkte Freiheit führt die Völker zum Selbstmord, sie langweilen sich in ihrem Triumph wie ein englischer Millionär.«
»Was sagen Sie uns Neues? Heutzutage findet man jegliche Macht lächerlich, und das ist ebenso üblich geworden, wie Gott zu leugnen. Man hat keinen Glauben mehr. Darum ist auch das Jahrhundert wie ein alter Sultan der Ausschweifung erlegen. Schließlich hat euer Lord Byron in letzter poetischer Verzweiflung die Leidenschaft des Verbrechens besungen.«
»Wissen Sie«, antwortete ihm der volltrunkene Bianchon, »daß uns ein Gran Phosphor mehr oder weniger zum Genie oder Bösewicht, zum Mann von Geist oder zum Idioten, zum tugendhaften Menschen oder zum Verbrecher macht?«
»Kann man so von Tugend reden?« rief Cursy; »der Tugend, dem Gegenstand aller Theaterstücke, der Lösung aller Dramen, dem Fundament aller Gerichtshöfe.«
»Ach! schweig doch, du Esel! Deine Tugend ist Achilles ohne Ferse!« sagte Bixiou.
»Wein her!«
»Willst du wetten, daß ich eine Flasche Champagner in einem Zug austrinke?«
»Welch ein Zug von Geist!« rief Bixiou.
»Sie sind blau wie Fuhrknechte«, sagte ein junger Mann, der mit ernster Miene seiner Weste zu trinken gab.
»Ja, Verehrter, die gegenwärtige Regierung repräsentiert die Kunst, die öffentliche Meinung herrschen zu lassen.«
»Die öffentliche Meinung? Das ist doch eine ganz lasterhafte käufliche Dirne. Wenn man euch Männern der Moral und Politik zuhört, so müßte man stets eure Gesetze der Natur, die öffentliche Meinung dem Gewissen vorziehen. Geht mir, alles ist wahr, alles ist falsch! Wenn uns die Gesellschaft die Daunen zu Kopfkissen gab, so hat sie diese Wohltat sicherlich durch die Gicht quitt gemacht, so wie
a name="page66" title="KG/TS" id="page66"> sie uns die Prozeßordnung zur Einschränkung der Gerechtigkeit und den Schnupfen als Folgeerscheinung des Kaschmirschals gebracht hat.«
»Ungeheuer!« rief Emile und unterbrach den Menschenfeind, »wie kannst du die Zivilisation angesichts dieser Weine, dieser köstlichen Speisen, mit denen du dich vollgeschlagen hast, schmähen? Friß dieses Reh samt den vergoldeten Läufen und Hörnern, nicht aber deine Mutter.«
»Ist es meine Schuld, wenn der Katholizismus schließlich dahin kommt, eine Million Götter in einen Mehlsack zu stecken, wenn die Republik immer auf einen Napoleon hinausläuft, wenn das Königtum zwischen der Ermordung Heinrichs IV. [Fußnote: Heinrich IV . (1553-1610): König von Frankreich 1589-1610; wurde von Ravaillac ermordet] und der Hinrichtung Ludwigs XVI. sitzt, wenn der Liberalismus zu La Fayette [Fußnote: La Fayette , Marie-Joseph Motier, Marquis de (1757-1834): unterstützte als Vertreter der Liberalen 1830 die Thronbesteigung von Louis-Philippe] wird? Haben Sie sich ihm im Juli angeschlossen?«
»Nein.«
»Dann schweigen Sie, Skeptiker!«
»Die Skeptiker sind die gewissenhaftesten Menschen.«
»Sie haben kein Gewissen.«
»Was sagen Sie da? Sie haben mindestens zwei.«
»Den Himmel diskontieren! Sehen Sie, das ist eine wahrhaft kaufmännische Idee. Die antiken Religionen waren nur eine glückliche Entwicklung der physischen Lust; aber wir, wir haben die Seele und die Hoffnung entwickelt; das ist Fortschritt.«
»Ach, meine lieben Freunde, was können Sie von einem mit Politik gemästeten Jahrhundert erwarten?« sagte Nathan; »was war das Schicksal der ›Geschichte des Königs von Böhmen und seiner sieben Schlösser‹, [Fußnote: »
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