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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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allein hat uns mit poetischer Kraft die Welt enthüllt, die uns von Gott trennt.«
    »Glaubst du?« antwortete Raphael mit einem seltsamen trunkenen Lächeln. »Nun denn, um uns nicht zu kompromittieren, bringen wir den berühmten Toast aus: Diis ignotis!«
    Und sie leerten ihre Becher voll Wissen, Kohlensäure, Wohlgerüche, Poesie und Ungläubigkeit.
    »Wenn Messieurs sich in den Salon begeben wollen, der Kaffee erwartet sie dort«, sagte der Haushofmeister.
    In diesem Augenblick schwebten fast alle Gäste in jenen Regionen der Seligkeit, wo das Licht des Geistes erlischt und der Körper, seines Tyrannen entledigt, sich dem Freudentaumel der Freiheit überläßt. Die einen blieben auf dem Höhepunkt der Trunkenheit trübsinnig und quälten sich, einen Gedanken zu fassen, der ihnen ihre eigene Existenz verbürgte; die anderen, in die Stumpfheit einer trägen Verdauung versunken, scheuten jede Bewegung. Beharrliche Redner stammelten noch undeutliche Worte, deren Sinn ihnen selbst entging. Ein paar Refrains wurden abgeleiert wie ein Uhrwerk, das seine künstliche seelenlose Stimme austönen lassen muß. Schweigen und Lärm hatten sich absonderlich gepaart. Trotzdem erhoben sich die Gäste, als sie die helle Stimme des Dieners vernahmen, der ihnen anstelle des Hausherrn neue Genüsse ankündigte, und schleppten, stützten, trugen sich gegenseitig fort. Die ganze Schar blieb einen Augenblick lang gebannt und entzückt auf der Türschwelle stehen. Die außergewöhnlichen Genüsse des Festmahls verblaßten vor dem berückenden Schauspiel, das der Gastgeber dem wollüstigsten ihrer Sinne bot. Unter den strahlenden Kerzen eines goldenen Kronleuchters, um eine mit vergoldetem Silber gedeckte Tafel sahen die abgestumpften Gäste, deren Augen sich bald lüstern entzündeten, eine Gruppe Frauen. Blendend war der Schmuck, doch blendender noch all diese Schönheiten, vor denen alle Wunder dieses Palastes dahinschwanden. Die glühenden Blicke dieser Mädchen, so wunderschön wie Feen, funkelten lebhafter als die Ströme des Lichts, in welchem die seidigen Reflexe der Stoffe, das leuchtende Weiß des Marmors und die feinen Rundungen der Bronzen schimmerten. Das Herz entflammte, die Kontraste ihres wogenden Kopfputzes und ihre Haltungen zu sehen, die in ihrem Reiz und ihrer Eigenart so verschieden waren. Es war eine Blumenhecke, in die Rubine, Saphire und Korallen gewunden waren; man sah schwarze Halsbänder auf schneeigen Hälsen, lose Schärpen, die wie ein Leuchtturmfeuer aufflatterten, stolze Turbane, schlichte, herausfordernde Tuniken. Dieses Serail bot Verführungen für alle Augen, reizte jede Phantasie. Eine Tänzerin in entzückender Haltung schien hüllenlos unter den fließenden Falten eines Kaschmirgewandes. Mal durchscheinende Gaze, mal schillernde Seide verbarg oder verriet geheimnisreiche Vollkommenheiten. Kleine schmale Füße sprachen von Liebe, frische rote Lippen waren stumm. Zarte, sittsame junge Mädchen von täuschender Unschuld mit sanften Madonnenscheiteln boten sich den Augen wie Erscheinungen, die ein Hauch hinwegwehen konnte. Aristokratische Schönheiten mit hochmütigem Blick und lässiger Haltung, aber schlank, zart gebaut und anmutig, neigten den Kopf, als hätten sie noch königliche Gunst zu vergeben. Eine Engländerin, eine keusche ätherische Gestalt, wie aus Ossians [Fußnote: Ossian : sagenhafter keltischer Sänger aus dem 3. Jahrhundert, unter dessen Namen der schottische Dichter James Macpherson (1736-1796) eine seinerzeit hochberühmte Gedichtsammlung veröffentlichte] Wolken herabgestiegen, glich einem Engel der Melancholie, dem Gewissen, das das Verbrechen flieht. Die Pariserin, deren ganze Schönheit in einer unbeschreiblichen Grazie liegt, eitel auf ihre Toilette und auf ihren Geist, gewappnet mit ihrer allmächtigen Schwäche, schmiegsam und hart, eine herzlose, leidenschaftslose Sirene, die die Gluten der Leidenschaft und die Sprache des Herzens kunstvoll vorzutäuschen versteht, fehlte nicht in dieser gefährlichen Versammlung, in der auch Italienerinnen, ruhig von Anschein und aufrichtig in ihrem Glück, üppige Normanninen mit prachtvollen Formen, südländische Frauen mit schwarzen Haaren und schön geschnittenen Augen zu finden waren. Es war, als hätte Lebel [Fußnote: Lebel , Dominique-Guillaume (1696-1768): Kammerdiener Ludwigs XV., der seinem König die Mädchen zuführen mußte] alle Schönheiten von Versailles zusammengetrommelt, die seit dem frühen Morgen ihre Fallstricke

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