Das Chagrinleder (German Edition)
ihren Duft und ihre Glut, die starken Liebestränken, magischen Dämpfen gleich im Hirn eine Art sinnverwirrende Wahnbilder erzeugen, die Beine lähmen und die Hände schwer wie Blei werden lassen. Die Früchte-Pyramiden wurden geplündert, die Stimmen schwollen an, der Tumult nahm zu. Man konnte kein Wort mehr unterscheiden, Gläser zersprangen, Gelächter barst los wie Raketen; Cursy ergriff ein Horn und schmetterte einen Tusch. Das war, als hätte der Teufel der tobenden Menge ein Zeichen gegeben; man johlte, pfiff, sang, schrie, heulte, grunzte. Es war lachhaft, wie Leute, die von Natur heiter waren, finster wurden wie der Schluß eines Dramas von Crébillon [Fußnote: Crébillon , Prosper Jolyot, Sieur de Crais-Billon, gen. Crébillon der Ältere (1674-1762): französischer Tragödiendichter; häufte in seinen nach antiken Stoffen gestalteten Stücken grausige, pathetische Szenen] oder träumerisch wie Matrosen in einem Reisewagen. Die Durchtriebenen verrieten ihre Geheimnisse den Neugierigen, die gar nicht zuhörten. Die Melancholischen lächelten wie Tänzerinnen am Schluß ihrer Pirouetten. Claude Vignon wiegte sich täppisch wie ein Bär im Käfig. Enge Freunde prügelten sich. Die in menschlichen Gesichtern auftretenden Ähnlichkeiten mit Tieren, von den Physiologen eifrig bewiesen, kamen in den Gebärden, in den Haltungen der Körper zum Vorschein. Ein Bichat, [Fußnote: Bichat , Marie-François-Xavier (1771-1802): französischer Arzt und Physiologe; grundlegende Betrachtungen zur Gewebelehre und pathologischen Anatomie] der kühl und nüchtern das mit angesehen hätte, hätte hier treffliche Studien machen können. Der Hausherr, der sich berauscht fühlte und nicht aufzustehen wagte, bemühte sich, eine anständige und gastfreundliche Miene zu wahren, und billigte mit einer starren Grimasse alle Übergriffe seiner Gäste. Sein breites, inzwischen rot und blau, ja beinahe violett gewordenes Gesicht, das fürchterlich anzusehen war, nahm in krampfhaften Anstrengungen, die dem Schlingern und Schwanken einer Brigg vergleichbar waren, an dem allgemeinen Trubel teil.
»Haben Sie sie umgebracht?« fragte ihn Émile.
»Es heißt, die Todesstrafe soll infolge der Julirevolution abgeschafft werden«, antwortete Taillefer, der seine Brauen mit einer verschlagenen und zugleich einfältigen Miene hochzog.
»Sehen Sie sie denn nicht manchmal im Traum?« fragte Raphael.
»Es ist ja längst verjährt«, erwiderte der im Golde schwimmende Mörder.
»Und auf sein Grab«, rief Emile hämisch, »wird der Friedhofswärter die Inschrift setzen lassen: ›Die ihr vorübergeht, weiht seinem Andenken eine Träne!‹ Oh!« fuhr er fort, »ich gäbe dem Mathematiker, der mir die Existenz der Hölle durch eine algebraische Gleichung beweisen kann, gut und gern 100 Sous.«
Er warf ein Geldstück in die Höhe und rief: »Kopf für Gott!«
»Sieh nicht hin!« sagte Raphael und fing die Münze auf.
»Was weiß man schon? Der Zufall ist ein Spaßvogel.«
»Leider!« seufzte Emile mit komisch bekümmerter Miene. »Ich sehe nicht, wohin ich zwischen der Geometrie des Ungläubigen und dem Paternoster des Papstes die Füße setzen soll. Pah! laß uns trinken! Trinken ist, glaube ich, das Orakel der göttlichen Flasche und das Schlußwort des Pantagruel.« [Fußnote: Pantagruel : Titelgestalt aus dem Roman »Gargantua und Pantagruel« von François Rabelais. Diis ignotis : lat., den unbekannten Göttern]
»Wir verdanken dem Paternoster«, antwortete Raphael, »unsere Künste, unsere Denkmäler, vielleicht sogar unsere Wissenschaften, und eine noch größere Wohltat: unsere modernen Regierungen, in welchen eine große und fruchtbare Gesellschaft vortrefflich von fünfhundert aufgeklärten Geistern repräsentiert wird, unter denen die opponierenden Kräfte einander aufheben und alle Macht der Zivilisation überlassen, der gigantischen Königin, die den König ersetzt, jenes alte Schreckgespenst, das Schicksal spielte und das die Menschen zwischen sich und den Himmel gesetzt hatten. Angesichts so vieler vollendeter Werke erscheint der Atheismus wie ein zeugungsunfähiges Gerippe. Was meinst du dazu?«
»Ich denke an die Ströme von Blut, die der Katholizismus vergossen hat«, sagte Émile kalt. »Aus unseren Herzen und unseren Adern hat er eine zweite Sintflut über die Welt gebracht. Aber gleichviel! Jeder denkende Mensch soll unter dem Banner Christi marschieren. Er allein hat den Triumph des Geistes über die Materie geheiligt, er
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