Das Chagrinleder (German Edition)
auf dem seine prophetischen Konturen sorgfältig mit einer roten Linie nachgezogen waren, die das Leder genau abschlossen. Seit der verhängnisvollen Orgie unterdrückte Raphael den leisesten Anflug eines Begehrens und lebte in einer Weise, die dem schrecklichen Talisman nicht das geringfügigste Zucken verursachen konnte. Das Chagrinleder war wie ein Tiger, mit dem er leben mußte, ohne seine blutdürstigen Instinkte zu wecken. Er hörte also die weitläufigen Erklärungen des alten Professors geduldig an. Vater Porriquet brauchte eine Stunde, um ihm von den Verfolgungen zu erzählen, deren Gegenstand er seit der Julirevolution geworden war. Der biedere Bürger hatte, vom patriotischen Verlangen nach einer starken Regierung beseelt, geäußert, man möge die Krämer in ihren Läden, die Staatsmänner in der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, die Advokaten im Justizpalast und die Pairs von Frankreich im Luxembourg lassen; aber einer der populären Minister des Bürgerkönigs hatte ihn des Karlismus beschuldigt und ihn von seinem Katheder verbannt. Der alte Mann war ohne Stellung, ohne Einkünfte, ohne Brot. Da er für einen armen Neffen zu sorgen hatte, für den er im Seminar von Saint-Sulpice die Pension bezahlte, kam er, weniger für sich selbst als für seinen Adoptivsohn, seinen ehemaligen Schüler zu bitten, er möchte sich bei dem neuen Minister für ihn verwenden. Es war ihm nicht einmal um die Wiedereinsetzung in sein früheres Lehramt zu tun, sondern nur um eine Rektorstelle an irgendeinem Provinzgymnasium. Raphael war von einer unüberwindlichen Schlafsucht befallen, als die eintönige Stimme des redlichen Alten schließlich aufhörte, in seinen Ohren zu tönen. Aus Höflichkeit hatte er dem Greis bei dessen langsamen und umständlichen Darlegungen in die farblosen und fast starren Augen geblickt, und eine unerklärliche Trägheit war über ihn gekommen und hatte ihn magnetisiert und fast betäubt.
»Nun ja, guter Vater Porriquet«, erwiderte er, ohne recht zu wissen, auf welche Frage er antwortete, »da kann ich nichts tun, gar nichts. Ich wünsche lebhaft, es möchte Ihnen gelingen ...«
Mit einemmal bäumte sich Raphael, der gar nicht darauf achtete, welche Wirkung diese banalen, egoistischen und leichtfertigen Worte auf der gelben, runzligen Stirn des Alten hervorbrachten, heftig auf wie ein aufgescheuchtes junges Wild. Er bemerkte eine dünne weiße Linie zwischen dem Rand des schwarzen Leders und der roten Kontur; er stieß einen so furchtbaren Schrei aus, daß der arme Professor entsetzt zusammenfuhr.
»Fort, alter Blödian!« rief er, »Sie werden zum Rektor ernannt werden! Konnten Sie nicht eine Leibrente von 1000 Talern erbitten, statt eines derart mörderischen Wunsches! Dann hätte Ihr Besuch mich nichts gekostet. Es gibt 100000 Stellen in Frankreich, und ich habe nur ein Leben! Ein Menschenleben ist mehr wert als alle Stellen der Welt ... Jonathas!« Jonathas erschien.
»Das hast du nun angestellt, du dreifacher Trottel! Warum hast du mir vorgeschlagen, diesen Herrn da zu empfangen?« Damit wies er auf den Alten, der wie versteinert dastand. »Habe ich meine Seele in deine Hände gelegt, damit du sie in Stücke reißt? Du hast mir in diesem Augenblick zehn Jahre meines Lebens geraubt! Noch einen Fehler wie den, dann kannst du mich an den Ort bringen, wo ich meinen Vater hingebracht habe. Da hätte ich doch wahrhaftig besser getan, die schöne Fœdora zu besitzen, als dem alten Gerippe da, diesem Jammerlappen, einen Dienst zu erweisen! Ich habe Gold für ihn genug. Und außerdem, wenn alle Porriquets in der Welt Hungers stürben, was kümmert das mich?«
Raphaels Gesicht war vor Zorn fast weiß geworden; ein leichter Schaum trat auf seine zitternden Lippen, und in seinen Augen lag Mordlust. Bei diesem Anblick wurden die beiden Alten von krampfhaftem Zittern befallen; sie standen da wie zwei Kinder vor einer Schlange. Der junge Mann sank in seinen Sessel zurück; in seiner Seele vollzog sich eine Art Reaktion, und in Strömen flossen die Tränen aus seinen flammenden Augen.
»Oh, mein Leben! mein schönes Leben!« stöhnte er. »Keine wohlwollenden Gedanken mehr! Keine Liebe! Nichts!« Er wandte sich zum Professor. »Das Unglück ist geschehen, alter Freund«, sagte er mit sanfter Stimme. »Sie sind für Ihre treuen Dienste nun reichlich belohnt; und mein Unglück wird wenigstens einem guten und würdigen Manne Gutes bringen.« Es lag in diesen fast unverständlichen Worten so viel
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