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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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zwei Tagesmärsche voraus, auf Paris zu] seiner Feinde erfährt, für 24 Stunden das Kommando verlangt und es nicht erhält. Wahrhaft der Blick des Eroberers und Verdammten! Ja, mehr noch, der Blick, den Raphael einige Monate zuvor auf die Seine oder auf das letzte Goldstück geworfen hatte, das er im Spiel setzte. Er unterwarf seinen Willen, seinen Intellekt dem plumpen gesunden Menschenverstand eines alten Bauern, den 50 Jahre Dienststellung nur notdürftig zivilisiert hatten. Fast froh, eine Art Automat zu werden, entsagte er dem Leben, um zu leben, und versagte seiner Seele alle Poesie des Wünschens. Um der grausamen Macht, deren Herausforderung er angenommen hatte, besser entgegenzutreten, war er nach Art des Origenes [Fußnote: Origenes (um 185 – um 254): griechischer Theologe, Begründer der christlichen Gnostik und Bibelauslegung] keusch geworden, indem er seine Phantasie entmannte. An dem Tag, nachdem er, durch ein Testament schlagartig reich geworden, gesehen hatte, wie das Chagrinleder kleiner wurde, hatte er seinen Notar aufgesucht. Dort hatte ein damals beliebter Arzt beim Dessert allen Ernstes erzählt, wie ein Schweizer sich von der Schwindsucht geheilt hatte. Dieser Mann hatte zehn Jahre lang kein Wort gesprochen und sich gezwungen, nur sechsmal in der Minute in der dicken Luft eines Kuhstalles zu atmen, außerdem hatte er nur ganz leichte Speisen zu sich genommen. »So werde ich es auch machen!« hatte sich Raphael gesagt. Er wollte um jeden Preis leben. Von Luxus umgeben, führte er das Leben einer Maschine. Als der alte Professor diesen jungen Leichnam ansah, erbebte er; alles schien ihm an diesem schmächtigen und gebrechlichen Körper künstlich zu sein. In diesem Marquis mit dem brennenden Blick, der gedankenschweren Stirn konnte er nicht mehr den Schüler mit dem frischen und rosigen Gesicht, den jugendlichen Gliedern erkennen, wie er in seiner Erinnerung lebte. Wenn der wackere Verfechter klassischer Ideale, der feinsinnige Kritiker und Bewahrer des guten Geschmacks Lord Byron gelesen hätte, hätte er geglaubt, einen Manfred vor sich zu sehen, wo er einen Childe Harold [Fußnote: Manfred, Childe Harold : Gestalten aus dem Versdrama ›Manfred‹ (1817) von Lord Byron (1788-1824)] erwartet hatte.
    »Guten Tag, Vater Porriquet«, sagte Raphael zu seinem Lehrer und drückte die eisigen Finger des alten Mannes mit seiner heißen, feuchten Hand. »Wie geht es Ihnen?«
    »Mir geht es schon gut«, erwiderte der Greis, von der Berührung mit dieser fiebernden Hand erschreckt. »Und Ihnen?«
    »Oh! Ich hoffe, mich bei guter Gesundheit zu erhalten.«
    »Sie arbeiten ohne Zweifel an einem schönen Werk?«
    »Nein«, erwiderte Raphael, »exegi monumentum, [Fußnote: exegi monumentum : lat., Ich habe ein Denkmal errichtet (Horaz, Carmen III, 30)] Vater Porriquet, ich habe eine große Schrift vollendet und der Wissenschaft für immer Valet gesagt. Ich weiß nicht einmal genau, wo mein Manuskript sich befindet.«
    »Es ist doch hoffentlich in einem reinen Stil geschrieben?« fragte der Professor; »ich hoffe, Sie haben nicht die barbarische Sprache dieser neuen Schule angenommen, die wunder was zu tun glaubt, wenn sie Ronsard [Fußnote: Ronsard , Pierre de (1524-1585): französischer Lyriker, Haupt der Pléiade, der bedeutendsten Dichterschule der französischen Renaissance] entdeckt!«
    »Mein Werk ist ein rein physiologisches Buch.« »Oh, damit ist alles gesagt!« gab der Professor zurück; »in den Wissenschaften muß die Grammatik den Erfordernissen der Entdeckungen Genüge leisten. Nichtsdestoweniger, mein Sohn, kann ein klarer, harmonischer Stil, die Sprache Massillons, [Fußnote: Massillon , Jean-Baptiste (1663-1742): französischer Kanzelredner] Monsieur de Buttons, des großen Racine, [Fußnote: Racine , Jean-Baptiste (1639-1699): französischer klassischer Dramatiker] kurz, ein klassischer Stil nie von Schaden sein. Aber, mein Freund«, unterbrach sich der Professor, »ich vergaß den Zweck meines Besuchs. Es ist ein eigennütziger Besuch.«
    Raphael erinnerte sich zu spät der wortreichen Eleganz und der beredten Umschreibungen, an die ein langjähriges Professorendasein seinen alten Lehrer gewöhnt hatte. Er bereute jetzt fast, ihn empfangen zu haben; aber in dem Augenblick, als er geneigt war, den Alten lieber wieder draußen zu sehen, unterdrückte er hastig diesen geheimen Wunsch und warf einen verstohlenen Blick auf das Chagrinleder, das vor ihm, auf einen weißen Stoff gespannt, hing,

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