Angel 01 - Die Engel
1
Z wei Uhr morgens in San Francisco.
Der Polizist hieß eigentlich Reynolds, aber wegen seiner roten Haare nannten ihn die Jungs auf der Wache immer nur Foxy. Reynolds gefiel das nicht sonderlich, ihm war es lieber, wenn man ihn Ray nannte, aber er hatte schon früh in seiner Laufbahn herausgefunden, dass man bei der Vergabe seines Spitznamens kaum eine Wahl hatte. Wenn die Jungs ihn Dumbo oder Goofy nennen wollten, würden sie das tun, und je mehr man sich darüber aufregte, desto größer war die Chance, dass sie den Namen beibehielten. Am besten gab man sich resigniert und grinste nur.
Foxys Schicht war beendet, und er war auf dem Heimweg, der ihn durch ein zwielichtiges Viertel führte, wo er anhielt und sich eine Zigarette anzündete. Er musste über seine Ehe nachdenken, die seit einiger Zeit immer mehr aus dem Ruder lief. Ursache und Wirkung lagen hierbei allein auf seiner Seite, was er auch wusste: bei seinem Bedürfnis nach Alkohol, um die Ereignisse des Tages zu verwischen, bevor er nach Hause ging. Clementine wusste, dass er harte Arbeitszeiten hatte, und tolerierte den Lebensstil eines Cops. Aber sie würde es nie hinnehmen, dass seine Freizeit vom Alkohol beherrscht würde. Deshalb saß Foxy nun hier und versuchte, sich zwischen einer glücklichen Ehe und einem Leben als alleinstehender, besoffener Cop zu entscheiden. Vielen Leuten wäre die Wahl nicht schwergefallen, aber Foxy mit seinem zwingenden Drang, nach der Arbeit einen Drink zu nehmen, konnte sich weder ein Leben ohne seine Frau noch ein Leben ohne seinen Bourbon vorstellen. Er hockte auf den Hörnern des Stiers, und sie stachen ziemlich übel.
Es war ein kalter, deprimierender Morgen, an dem der Nebel an den Wänden zwischen den Gassen klebte und langsam durch die Rinnsteine waberte, wo er sich mit den Dämpfen aus den Kanälen vermischte. An der Straßenecke stand ein Mann und starrte zu einem erleuchteten Fenster in einem schäbigen Apartmenthaus hoch, nur ein paar Meter von Foxys Wagen entfernt. Er sah aus wie eine Tunte, mit langen Wimpern und Fingernägeln. Es brannten auch noch andere Lichter, aber ihn schien nur dieses eine Zimmer zu interessieren. Sein starrer Gesichtsausdruck zeigte, wie intensiv sein Interesse war. Man hätte ihn für einen Spanner halten können, aber es gab dort nichts zu sehen, nicht einmal eine Silhouette hinter der Jalousie.
» WOFÜR HÄLTSTE MICH DENN?«
Der Schrei, der aus einer der anderen Wohnungen kam, war gedämpft, so als hätte der Schreiende den Kopf unter einem Kissen oder einer dicken Decke. Aus anderen Zimmern drangen noch mehr Geräusche. Das hier war eine der Gegenden, in denen es nie still war: Mindestens ein Drittel der Bewohner war immer wach, wegen des kläffenden Köters, den eigentlich niemand hätte halten dürfen, wegen der ewigen Möbelrückerei, wegen des Klapperns von Geschirr und Besteck, und, das Schlimmste von allem, wegen des Gelächters. Hä-hä-hä-hä-hä-hä-hä-hä. Irgendein unerkannter Kastrat, der schrill über etwas lachte, das andere weder sehen noch hören konnten – also über gar nichts.
Lachen. Murmel, murmel, murmel. Lachen. Murmel, murmel, murmel. Lachen.
Immer, wenn die Nachbarn dachten, dass wahnsinnige Lachen hätte aufgehört, fing es wieder an; durchdringend und hartnäckig bohrte es sich durch die dünnen Wände. Niemand verstand, warum den Typen nicht längst schon jemand umgebracht hatte. Mit einem solchen Lachen verdiente er es zu sterben. Es machte alle wahnsinnig und trieb jeden dazu, zu schreien: HALT VERDAMMT NOCHMAL DIE KLAPPE WAS IST DENN SO VERDAMMT WITZIG WEISST DU EIGENTLICH WIE SPÄT ES IST DU ARSCHLOCH?, bis endgültig ein Höllenlärm losbrach und selbst der Lachsack nach Ruhe brüllte. RU-HE! Jesus!
In diesem Viertel gab es ein Schichtsystem, wenn es darum ging, jene zu nerven, die schlafen wollten. Diejenigen, die nicht schlafen konnten, hielten diejenigen wach, die es wollten, und so schlief am Ende niemand, und Ruhe kehrte erst gegen Sonnenaufgang ein, wenn alle völlig frustriert waren.
Der Beobachter hingegen war still und hielt regungslos Wache, obwohl es eisig kalt war. Die einzelne Straßenlaterne, die noch funktionierte, warf einen gelblichen Schein auf das Gesicht des Beobachters.
Jede Frau, die ihn dort gesehen hätte, egal ob Nutte oder Societylady, hätte gesagt, er sei ein schöner junger Mann. Seine Augen leuchteten in einem hellen Grau, seine vollen Lippen erinnerten an zarte Rosenblätter. Seine makellose Haut war so
Weitere Kostenlose Bücher