Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
einer Oase inmitten einer großen Wüste. Nicht allen geht es gleichermaßen gut, aber allen geht es besser als früheren Generationen und als denen, die anderswo ihr Leben fristen. Wir, die Nachkriegsgeborenen der westlichen Hemisphäre, haben den weltgeschichtlich günstigsten Zeitpunkt und günstigsten Ort erwischt, den man sich denken kann, um auf diese Welt zu kommen und in ihr aufzuwachsen. Keine Generation vor uns hatte größeres Glück als wir.
Warum aber fallen wir uns aus Freude über unser Glück nicht täglich um den Hals? Warum sind wir Glückskinder so missgestimmt, schlecht gelaunt, depressiv, unzufrieden, voller Selbstmitleid? Arbeitslose, die von unserer Gesellschaft vor Obdachlosigkeit und Verelendung bewahrt und medizinisch gut versorgt werden, wählen rechtsradikal. Jugendliche, denen von ihren Eltern alle Möglichkeiten der Bildung geboten werden, schmeißen die Schule oder brechen das Studium ab. Arbeiter und Angestellte, die eine Lebenserwartung haben wie noch nie in der Geschichte der Menschheit, rebellieren, weil ihr Renteneintrittsalter um zwei Jahre erhöht werden soll.
Vielen Menschen schlägt der mörderische Konkurrenzkampf der globalisierten Wirtschaft aufs Gemüt. Die der Konkurrenz nicht mehr standhalten, werden vorzeitig ausgemustert oder gar nicht erst zugelassen. Ein Teil der Jugend empfindet sich als überflüssig, weil er scheinbar nicht gebraucht wird. 41 Millionen Menschen in der Europäischen Union leiden unter Angst, Panik und sozialen Phobien, 21 Millionen sind depressiv, 9 Millionen betäuben sich mit Alkohol, 2 und allein in Deutschland liegt die Zahl der Pillen- und Medikamentensüchtigen zwischen 1,4 und 1,9 Millionen. 3 Dazu kommen die Millionen, die der Wohlstand krank macht, die Übergewichtigen, Diabetiker, Kettenraucher, Rheumatiker und Herz-Kreislauf-Geschädigten.
Würde man die Europäer fragen, ob sie mit ihrem Leben rundum glücklich und zufrieden sind, antwortete vermutlich nur ein kleiner Teil ohne Zögern mit einem uneingeschränkten Ja. Sind wir also inmitten unseres Wohlstands und der Ordnung und Sicherheit unserer Verhältnisse unfähig geworden zum Glück? Fehlt uns etwas?
Ein Teil unserer Gesellschaft scheint gegenwärtig die Erfahrung zu machen, dass ihm die Butter vom Brot genommen wird. Der andere, versorgte, wohlhabendere Teil – noch immer die Mehrheit im Land – scheint dagegen zu merken, dass Jesus recht hatte mit seiner Aussage: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein . (Matthäus 4, 4 und Lukas 4, 4) Der aktuelle Trend zu Sinnsuche, Mystik, Esoterik, Spiritualität und Religion deutet darauf hin, dass sich eine große Zahl von Zeitgenossen jenes Defizits bewusst wird, von dem Jesus sprach.
Aber dieser Spruch hat einen zweiten Teil. Vollständig lautet er: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht . – Wer in Europa, außer Pfarrern, Theologen und regelmäßigen Kirchgängern, versteht noch, was mit diesem zweiten Teil gemeint ist? Verstehen es die Pfarrer und Theologen selbst noch?
Wohlstandsgesellschaften, in denen so ein Wort nicht mehr verstanden wird, entwickeln sich zu segmentierten Wehleidigkeits- und Neidgesellschaften. In solchen Gesellschaften wird jede Verbesserung als ungenügend, die geringste Verschlechterung als katastrophal empfunden. Es wird ein Anspruchsdenken gezüchtet, das ins Unermessliche wächst, in allen Schichten.
Zu viele Menschen der westlichen Hemisphäre scheinen sich ihrer komfortablen Lage zu wenig bewusst zu sein. Die Heizung im Winter, die Klimaanlage im Auto, das Handy, die Post, die warme Dusche, die Reisen in ferne Länder, Events, Festspiele und Jahrmärkte zu allen Jahreszeiten, Museen, Theater und Konzerthallen, Arztpraxen und Apotheken allerorten, Kindergärten, Schulen und Universitäten, gepflegte Parks, Restaurants, Kneipen, Supermärkte, U-Bahnen, Taxen, beleuchtete Straßen, eine funktionierende Polizei und Justiz, die nicht korrupt sind – all das, wovon drei Viertel der Weltbevölkerung nur träumen, erscheint uns, dem restlichen Viertel, als der uns selbstverständlich zustehende Mindeststandard, und von einem guten Leben erwarten wir, dass es über diesem Standard liegt.
Wer den Ausnahmezustand für den Normalzustand hält, vergisst leicht, wie schwer es war, der großen Wüste diese kleine Oase abzutrotzen, fühlt kaum die Pflicht, die Oase zu erhalten, unterschätzt die Mühe, die es kostet, den schönen Garten zu
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