Das Daemonenschiff
anderen?«
»Nein«, antwortete Urd. »Aber versprichst du mir, dass das
alles ist?«
»Wie meinst du das?«
Urd machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in der ihr
Bruder und Abu Dun verschwunden waren. »Odin. Der falsche
Gott. Er ist … auch so, habe ich recht?«
Andrej war überrascht. Urd mochte noch immer schockiert
und benommen sein von dem, was sie erfahren hatte, aber ihr
Verstand arbeitete weiter mit derselben Schärfe, die er gewohnt
war.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete er ehrlich. »Vielleicht. Er
hat behauptet, er und die anderen seiner Art wären das, wozu
wir vielleicht werden, wenn wir lange genug leben … aber ich
bin nicht sicher, dass es die Wahrheit ist.«
»Oder dass du das willst?«, fragte Urd.
Andrej nickte stumm.
»Du fürchtest dich davor«, fuhr Urd fort, und er sah dieselbe
Furcht in ihrem Gesicht. »Ihr seid nicht mit uns gekommen, um
unser Volk zu befreien. Ihr seid hier, weil ihr ihn hasst – oder
das, was er ist. Weil er all das ist, was ihr fürchtet. Du hast
Angst, eines Tages genauso zu werden wie er, habe ich recht?«
Andrej blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig, vielleicht, weil er sie selbst nicht kannte. Vielleicht auch, weil ihn
ihre Worte so sehr erschreckten, sprach sie doch etwas aus,
worüber er selbst bisher nicht einmal nachzudenken gewagt
hatte.
Er hatte wenig Erfahrungen mit jenen anderen Unsterblichen,
die von sich behaupteten, das zu sein, was sie eines Tages
vielleicht wurden, und keinerlei Beweis für den Wahrheitsgehalt
dieser Behauptung, abgesehen von ihrem Wort. Er wusste nur,
dass sie gerne mit Menschen und Schicksalen spielten und er
niemals gnadenloseren Kreaturen begegnet war. Es hatte eine
Ausnahme gegeben, eine Frau, von der er eine Weile sogar
geglaubt hatte, dass er sie liebte, bis er schließlich begriff, dass
Abu Dun und er auch für sie nicht mehr als Werkzeuge gewesen
waren, vielleicht ein bisschen nützlicher als die anderen, und
sicherlich williger, aber doch nicht mehr.
Ein Gefühl von plötzlicher, tiefer Trauer überkam ihn, als er
an Meruhe zurückdachte, und das, was er für sie empfunden
hatte. Es war nicht mit dem zu vergleichen, was er für Urd
fühlte, und doch war es nach unendlich langer Zeit wieder das
erste Mal gewesen, dass er einem Menschen vollkommen und
vorbehaltlos vertraut hatte.
Nur dass sie eben kein Mensch gewesen war, und dass sie Abu
Dun und ihn um ein Haar getötet hätte, um ein Ziel zu erreichen,
das möglicherweise nobel, aber nicht ihr Ziel gewesen war.
»Billigst du mir wirklich nicht zu, dasselbe zu empfinden wie
du, Andrej?« Urd hatte sein Schweigen richtig gedeutet, und
vermutlich auch den Schmerz erkannt, der bei der plötzlichen
Erinnerung in seinen Augen erschienen war. »Dann habe ich
dich wohl falsch eingeschätzt.«
Vielleicht, dachte Andrej, hatte sie auch genau das befürchtet.
Vielleicht war es genau das, wovor sie Angst hatte – dass das
Wissen, plötzlich um so vieles stärker als alle anderen zu sein,
ihr irgendwann ihre Menschlichkeit nahm.
»Sie sind nicht wie wir«, sagte er lahm.
»Und ihr seid nicht wie wir«, sagte Urd. »Oder wie das, was
ich bis gestern war. Du hast außer Abu Dun schon andere deiner
… unserer Art getroffen.«
Andrej nickte.
»Sind sie alle wie ihr?«, fragte Urd, in einem Tonfall und mit
einem Blick, der ihn schmerzhaft begreifen ließ, dass sie die
Antwort auf ihre eigene Frage längst wusste. »Oder sind sie wie
er? Verachten sie die Menschen und halten sie für nichts als
Tiere und Sklaven?«
»Nein!«, widersprach Andrej erschrocken und viel zu laut.
»Sie …« Er hatte jetzt endgültig nicht mehr die Kraft, ihrem
Blick standzuhalten, sah weg und fuhr erst nach einer Pause
leiser und in verändertem Ton fort. »Nicht alle.«
»Aber manche.«
»Ja«, gestand Andrej widerwillig. »Einige sind …« Wieder
brach er ab und suchte nach Worten, und schließlich rettete er
sich in ein schmerzerfülltes Lächeln und ein angedeutetes
Kopfschütteln. »Ich will dir nichts vormachen, Urd. Du hast
recht. Es ist kein Zufall, dass Abu Dun und ich seit so langer
Zeit allein durch die Welt ziehen. Die meisten von denen, die
wir getroffen haben, sind genau das, was du gerade beschrieben
hast.«
»Und ich soll mich nicht fürchten, so zu werden?«
»Ich kann dir nicht versprechen, dass es nicht so kommt«,
antwortete er ehrlich. »Vielleicht sind Menschen nun einmal
so.«
»Böse?«
»Schwach«, verbesserte sich Andrej.
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