Das Daemonenschiff
übertreibt er es«, seufzte er.
Urd blickte weiter stur geradeaus.
»Abu Dun, meine ich«, sagte Andrej. »Nicht dein Bruder.«
Urd schwieg.
»Ich fürchte, die beiden werden niemals Freunde«, sagte
Andrej.
Urd musste irgendetwas sehr Interessantes in den skelettierten
Baumwipfeln entdeckt haben, denn ihr Blick konzentrierte sich
jetzt ganz auf die dürren Schatten über ihnen.
»Das ist albern«, sagte Andrej.
»Stimmt«, antwortete Urd.
»Und wie lange möchtest du dieses Spielchen noch treiben?«,
erkundigte sich Andrej.
Urd sah jetzt konzentriert nach rechts, was nur konsequent war
– schließlich ging Andrej links neben ihr. »Vielleicht, bis du
dich bei mir entschuldigt hast.«
»Entschuldigt?«
»Das wäre ein Anfang.«
»Und … wofür?«
Was immer sie zwischen den schattenhaften Silhouetten der
Bäume entdeckt haben mochte, musste wohl nahezu ihre gesamte
Aufmerksamkeit beanspruchen, denn es dauerte abermals eine
Weile, bis sie antwortete, und dabei sah sie ihn immer noch nicht
an. »Was hast du eigentlich gedacht, was ich tun soll?«, fragte sie.
»Hast du erwartet, dass ich mich freundlich bedanke und so schnell
wie möglich nach Hause gehe, um an meinen Webstuhl zu
kommen oder mein Nähzeug zu suchen? Oh, sicher, ich werde jetzt
bestimmt eine prachtvolle Schneiderin. Ich meine, ich kann mich
jetzt stechen und schneiden, ohne dass es mir etwas ausmacht!«
Andrej lauschte vergeblich auf einen Unterton von Bitterkeit
oder gar Vorwurf in ihrer Stimme, aber da war nichts. Sie klang
so gefasst, dass es ihm schon beinahe ein bisschen unheimlich
war. Aber er stellte sich die gleiche Frage: Was hatte er erwartet?
»Es tut mir leid, Urd«, sagte er. »Ich weiß, es war der falsche
Moment. Aber was hätte ich tun sollen? Dich sterben lassen?«
Gerade hatte er sich insgeheim darüber geärgert, mit welch
kindischer Beharrlichkeit sie seinem Blick auswich. Jetzt
wünschte er sich beinahe, sie täte es weiter, als sie nun doch den
Kopf drehte und er in ihre Augen sah. »Wer weiß?«
»Ach!«, antwortete Andrej heftig. »Erzähl mir nicht, dass du
sterben wolltest!«
»Natürlich nicht«, sagte Urd. »Wer will das schon? Aber du
hattest nicht das recht, mich zu …« Sie rang sichtlich nach dem
richtigen Wort. »… so etwas zu machen.«
»Zu einer von uns«, verbesserte sie Andrej. Ihre Worte trafen
ihn wie ein Schlag ins Gesicht, aber er beherrschte sich gut
genug, es sich nicht anmerken zu lassen. »So etwas ist das
falsche Wort.«
»Genau genommen sind es zwei Worte«, verbesserte ihn Urd,
aber der spöttischen Wahl ihrer Worte fehlte der dazu passende
Tonfall, und auch ihr Blick blieb ernst. Etwas von dem, was ihn
vorhin in ihren Augen so erschreckt hatte, war noch immer
darin. »Ich weiß nicht mehr, was ich bin, Andrej. Vor ein paar
Stunden wusste ich es noch, aber jetzt … weiß ich es nicht
mehr. Ich weiß nicht, ob ich das sein will, wozu du mich
gemacht hast.«
Die Worte taten weh, und er spürte selbst, dass es ihm jetzt
nicht mehr vollends gelang, es zu verbergen. Was hatte er
eigentlich erwartet? Die vermeintliche Leichtigkeit, mit der Urd
verkraftet hatte, was er hatte tun müssen, hätte ihn warnen
sollen. Niemand konnte eine solche Eröffnung mit einem
Schulterzucken abtun und dann einfach weiterleben, als wäre
nichts geschehen. Sicher, Urd war jung genug, um sich vielleicht nicht unsterblich zu fühlen, aber noch keinen ernsthaften
Gedanken an den Tod oder auch nur das Alter verschwendet zu
haben, und doch hatte sie sehr wohl gewusst, wie begrenzt ihre
Zeit war. Hatte er wirklich geglaubt, sie würde dieses Geschenk
mit einem Lächeln annehmen, und sonst nichts?
Andrej versuchte sich zu erinnern, wie es bei ihm selbst gewesen war, damals, vor so unendlich langer Zeit, als er in derselben
Situation gewesen war wie sie heute und begriffen hatte, dass
sein Leben nie mehr so sein würde, wie noch einen Moment
zuvor. Es gelang ihm nicht völlig. Es war selbst für ihn zu lange
her, um sich noch an Einzelheiten zu erinnern, aber es hatte
Monate gedauert, vielleicht Jahre, und auch er hatte mit dem
Schicksal gehadert und gezweifelt. Manchmal tat er es heute
noch.
»Vielleicht war es falsch«, sagte er leise. »Aber wenn es ein
Fehler war, dann bedauere ich ihn nicht. Ich würde es jederzeit
wieder tun.« Er versuchte zu lachen. Es misslang. »Findest du
den Gedanken wirklich so schrecklich, länger zu leben und
stärker zu sein als die meisten
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