Das Darwin-Virus
wirksamen, erfolgreichen Übergang zu einem neuen Phänotyp zu sorgen, zu einer neuen Menschenvariante. Wir wissen nur noch nicht, wie es funktioniert. Es ist so kompli-360
ziert … man kann sein ganzes Leben damit zubringen, es zu verstehen!
Angst machte ihr vor allem, dass man den Befund in der derzeitigen Atmosphäre völlig falsch deuten würde.
Sie schob den Stuhl vom Computertisch zurück. Alle Energie, die sie heute Morgen in sich gespürt hatte, der ganze Optimismus, das Nachglühen der Nacht mit Mitch, erschienen auf einmal leer und sinnlos.
Auf dem Korridor hörte sie Stimmen. Die Stunde war schnell vergangen. Sie stand auf und faltete den Ausdruck mit den Kandidatengenen zusammen. Sie musste damit zu Jackson gehen – das war ihre erste Pflicht. Anschließend wollte sie mit Dicken reden.
Sie mussten ihre Reaktionen abstimmen.
Von dem Trockenständer nahm sie ihren Mantel und warf ihn über. Sie wollte gerade gehen, da kam Jackson aus dem Flur herein. Kaye sah ihn ein wenig erschrocken an – er war noch nie zu ihr ins Labor gekommen. Er sah erschöpft und zutiefst besorgt aus. Auch er hatte ein Blatt Papier in der Hand.
»Ich dachte, Sie sollten es als Erste erfahren«, sagte er und schwenkte das Papier vor ihrer Nase.
»Was sollte ich erfahren?«
»Wie weit Sie wahrscheinlich daneben liegen. SHEVA kann mutieren.«
Kayes Tag endete mit drei Stunden voller Besprechungen mit leitenden Angestellten und Assistenten – eine Litanei der Zeitpläne und Termine, der alltägliche Kleinkram der Forschung in einem winzigen Teil eines sehr großen Unternehmens. So etwas war im besten Fall betäubend, aber jetzt wurde es fast unerträglich. Die selbstgefällige Herablassung, mit der Jackson ihr die Nachrichten aus Deutschland übermittelt hatte, hätte sie fast zu einer scharfen Erwiderung verleitet, aber sie hatte nur gelächelt und gesagt, sie arbeite bereits an der Frage; dann war sie gegangen … um sich auf der Damentoilette fünf Minuten lang im Spiegel anzustarren.
Von Americol ging sie in Begleitung des stets wachsamen Benson zu ihrem Wohnhochhaus. Die letzte Nacht kam ihr fast wie ein Traum vor. Der Pförtner öffnete die große Glastür, lächelte beide höflich an und bedachte den Leibwächter mit einem kollegialen Nicken. Benson kam mit ihr in die Aufzugkabine. Kaye hatte sich in Gegenwart des Sicherheitsbeamten nie sonderlich wohl gefühlt, aber bisher war es ihr gelungen, stets eine höfliche Unterhaltung zu führen. Jetzt aber konnte sie auf seine Frage, wie ihr Tag gelaufen sei, nur mit einem Brummen antworten.
Als sie die Tür Nummer 2011 aufschloss, dachte sie einen Augenblick lang, Mitch sei nicht mehr da. Mit einem Zischen stieß sie den Atem aus. Er hatte bekommen, was er wollte, und jetzt musste sie sich wieder allein mit ihrem Versagen auseinander setzen, mit ihren intelligentesten und verheerendsten Fehlschlägen.
Aber dann kam Mitch mit fast freudiger Hast aus dem kleinen Nebenzimmer. Er blieb einen Augenblick lang vor ihr stehen, sah ihr prüfend ins Gesicht, taxierte die Situation und umarmte sie dann ein wenig zu sanft.
»Drück’ mich, bis ich schreie«, sagte sie. »Es war ein wirklich schrecklicher Tag.«
Aber das verhinderte nicht, dass sie Lust auf ihn hatte. Wieder war die Liebe heftig und feucht und voll wunderbarer Harmonie, wie sie es noch nie erlebt hatte. Diesen Augenblicken gab sie sich ganz hin, und als sie nicht mehr konnten, als Mitch von Schweißperlen bedeckt neben ihr lag und die Laken unter ihr unangenehm nass waren, musste sie weinen.
»Jetzt wird es wirklich hart«, sagte sie mit zitterndem Kinn.
»Erzähl’ es mir.«
»Ich glaube, ich habe Unrecht, wir haben Unrecht. Ich weiß, dass es nicht stimmt, aber alle sagen mir, dass ich Unrecht habe.«
»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Mitch.
»Nein!«, schrie sie. »Ich habe es vorausgesagt, ich habe es kommen sehen, aber nicht frühzeitig genug, und sie haben mich ausgebootet. Jackson hat mich ausgebootet. Ich habe noch nicht mit Marge Cross gesprochen, aber …«
Mitch brauchte mehrere Minuten, um ihr die Einzelheiten aus der Nase zu ziehen, und auch danach konnte er nur ungefähr nachvollziehen, wovon sie redete. Kurz gesagt, hatte sie den Eindruck, dass neue Ausprägungsformen von SHEVA neue Varianten der großen Proteinkomplexe entstehen ließen, einfach für den Fall, dass das erste DarwinVirus sich nicht als wirksam erwies oder auf Schwierigkeiten stieß. Jackson und fast alle anderen
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