Das Darwin-Virus
den windmühlenartigen Armbewegungen auf und machte Dehnübungen für den Hals: Eine Hand griff nach dem anderen Oberarm und übte Zug aus; gleichzeitig blickte er an dem gestreckten Arm entlang, den er so weit wie möglich nach hinten zog. »Es gibt keinen Anlass, es so weit kommen zu lassen. Ich werde der Sache sofort ein Ende machen. Heute morgen habe ich einen Vorabdruck aus dem PaulEhrlichInstitut in Deutschland bekommen. Dort haben sie mutierte Formen von SHEVA gefunden. Und zwar mehrere. Krankheitserreger mutieren, Christopher.
Wir müssen die Impfstofferprobung einstellen und wieder ganz von vorn anfangen. Das lenkt alle Hoffnungen in eine wirklich üble Richtung. Einen solchen Aufruhr werde ich beruflich nicht überleben.«
Dicken sah zu, wie Augustine auf der Stelle tänzelte und von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Schließlich blieb er stehen und holte tief Luft. »Morgen werden auf der Mall wahrscheinlich zwanzig- oder dreißigtausend Menschen demonstrieren. Irgendjemand hat einen Bericht der Taskforce über die Befunde mit RU-486 durchsickern lassen.«
Dicken spürte, wie sich in ihm etwas zusammenkrampfte, wie es in seinem Inneren einen kleinen Knall gab wegen der Enttäuschung über Kaye auf der einen Seite und seine bisherige Arbeit auf der anderen. Er hatte seine Zeit völlig vergeudet. Wie er mit seiner Theorie einen Boten erklären sollte, der mutiert und damit seine Botschaft verändert, konnte er nicht erkennen. Kein biologisches System würde seinen Nachrichtenübermittlungsmechanismen eine solche Kontrolle erlauben.
Er hatte Unrecht gehabt. Kaye Lang hatte Unrecht gehabt.
Der Leibwächter zeigte auf seine Armbanduhr, aber Augustine verzog das Gesicht und schüttelte genervt den Kopf.
»Erzählen Sie mir mehr darüber, Christopher«, sagte er, »dann überlege ich mir, ob ich Sie diese blöde Arbeit weitermachen lasse.«
54
Baltimore
Mit unerschütterlichem Selbstvertrauen ging Kaye zu Fuß von ihrer Wohnung zu Americol. Sie blickte am BromoSeltzer Tower empor – er wurde so genannt, weil früher eine riesige blaue Arzneiflasche auf seinem Dach gestanden hatte. Heute war nur noch der Name übrig; die Flasche hatte man schon vor Jahrzehnten entfernt.
Mitch ging ihr nicht aus dem Kopf, aber seltsamerweise war er keine Ablenkung. Ihre Gedanken waren sehr konzentriert, und sie hatte jetzt eine viel klarere Vorstellung von dem, was sie suchte.
Während sie die Fußwege zwischen den Gebäuden entlangging, freute sie sich über das Spiel von Sonne und Schatten. Es war ein so schöner Tag, dass sie den stets gegenwärtigen Benson fast vergessen konnte. Er begleitete sie wie immer zur Laboretage und blieb dann zwischen Aufzug und Treppe stehen, sodass niemand seinem prüfenden Blick entgehen konnte.
Kaye betrat ihr Labor und hängte Handtasche und Mantel an ein Trockengestell für Glasgeräte. Im Nachbarraum werteten fünf ihrer sechs Assistentinnen die Elektrophoresegele der letzten Nacht aus. Sie war froh, ein wenig allein zu sein.
Sie setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch und holte sich das AmericolIntranet auf den Bildschirm. Ein paar Sekunden später hatte sie sich von der Eröffnungsseite zum firmeneigenen HumanGenomProjekt durchgeklickt. Es war eine hervorragend aufgebaute Datenbank, in der man leicht recherchieren konnte; wichtige Gene waren benannt, ihre Funktionen waren gekennzeichnet und wurden in allen Einzelheiten erläutert.
Kaye tippte ihr Passwort ein. In ihren ursprünglichen Arbeiten hatte sie sieben Gene dingfest gemacht, die als Kandidaten für Expression und Zusammenbau vollständiger, infektiöser HERVPartikel infrage kamen. Diejenigen, die sie am wahrscheinlichsten für funktionsfähig gehalten hatte, standen, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, tatsächlich mit SHEVA in Zusammenhang –
zum Glück, hätte sie eigentlich denken müssen. In den paar Monaten, seit sie bei Americol war, hatte sie die sechs anderen Kandidaten eingehender untersucht, und nun wollte sie eine Liste mit mehreren tausend weiteren, möglicherweise interessanten Genen in Angriff nehmen.
Kaye galt als Expertin, aber in der riesigen Welt der menschlichen DNA kannte sie eigentlich nur ein paar baufällige, scheinbar aufgegebene Baracken in mehreren kleinen, fast vergessenen Städten. Die HERVGene waren angeblich Fossilien, verstreute Bruchstücke in DNAAbschnitten, die noch nicht einmal eine Million Basenpaare lang waren. Auf derart geringe Entfernungen können Gene aber ziemlich
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