Das Darwin-Virus
nassen, sich ausbreitenden, stinkenden Masse.
56
New York
Mitch entdeckte die morgendliche Schlagzeile an einem Zeitungsstand der Pennsylvania Station. In der Daily News hieß es:
AUFRUHR VOR DEM KAPITOL
Senat gestürmt
Vier Senatoren getötet; Dutzende Tote,
mehrere tausend Verletzte
Kaye und er hatten am Abend bei Kerzenlicht zusammen gegessen und danach miteinander geschlafen. Sehr romantisch, völlig losgelöst von allem. Sie hatten sich erst vor einer Stunde getrennt. Kaye hatte die Farbe ihrer Kleidung sorgfältig ausgewählt; sie hatte einen schwierigen Tag vor sich.
Er holte sich eine Zeitung und bestieg den Zug. Gerade hatte er sich gesetzt und das Blatt aufgeschlagen, da fuhr der Zug an. Als er beschleunigte, fragte sich Mitch, ob Kaye sich in Gefahr befand, ob es ein spontaner oder organisierter Aufruhr war und ob das überhaupt eine Rolle spielte.
Das Volk hatte gesprochen, oder besser gesagt: Es hatte die Zähne gefletscht. Die Leute hatten das Versagen und die Untätigkeit Washingtons satt. Der Präsident führte jetzt Gespräche mit seinen Sicherheitsberatern, den Stabschefs, den Vorsitzenden der wichtigsten Ausschüsse und dem obersten Richter. Für Mitch klang das ganz danach, als bereite man sich langsam, aber sicher darauf vor, den nationalen Notstand auszurufen.
Es war ihm nicht recht, im Zug zu sitzen. Dass Merton ihm oder Kaye nützlich sein konnte, bezweifelte er, und er konnte sich auch nicht vorstellen, vor Collegestudenten Vorlesungen über knochentrockene Knochenkunde zu halten, ohne jemals wieder den Fuß auf ein Grabungsgelände zu setzen.
Mitch legte die zusammengefaltete Zeitung auf seinen Sitz und machte sich durch den Gang auf den Weg zum öffentlichen Telefon am Ende des Wagens. Er wählte Kayes Nummer, aber sie war schon weg; sie bei Americol anzurufen, hielt er für taktisch unklug.
Nachdem er tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen, kehrte er zu seinem Platz zurück.
57
Baltimore
Dicken hatte sich für zehn Uhr mit Kaye in der AmericolKantine verabredet. An der Konferenz, die für sechs Uhr abends angesetzt war, würden eine ganze Reihe Gäste teilnehmen, unter anderem der Vizepräsident und der wissenschaftspolitische Berater des Präsidenten.
Dicken sah entsetzlich aus. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. »Diesmal bin ich das Wrack«, sagte er. »Ich glaube, die Diskussion ist vorbei. Wir sind erledigt, wir sind ausgeschieden.
Wir können zwar weiter Krach schlagen, aber ich wüsste nicht, wer uns noch zuhören sollte.«
»Und was ist mit den wissenschaftlichen Aspekten?«, fragte Kaye vorwurfsvoll. »Sie haben sich doch nach der HerpesKatastrophe alle Mühe gegeben, uns wieder auf Kurs zu bringen.«
»SHEVA mutiert«, sagte Dicken und schlug mit der Hand rhythmisch auf den Tisch.
»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.«
»Sie haben nur nachgewiesen, dass SHEVA vor langer Zeit mutiert ist. Es ist schlicht und einfach ein menschliches Retrovirus, und zwar ein altes mit einer langsamen, aber sehr schlauen Fortpflanzungsstrategie.«
»Christopher …«
»Sie werden Ihre Anhörung bekommen«, erwiderte Dicken. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich. »Erklären Sie es nicht mir.
Erklären Sie es denen. «
Kaye sah ihn verärgert und zugleich erstaunt an. »Warum haben Sie es sich nach so langer Zeit anders überlegt?«
»Am Anfang habe ich ein Virus gesucht. Ihre Artikel, Ihre Arbeiten haben mich vermuten lassen, es könne etwas anderes sein.
Aber wir können uns alle irren. Unsere Aufgabe besteht darin, nach Belegen zu suchen, und wenn sie überzeugend sind, müssen wir unsere kleinen Lieblingsideen aufgeben.«
Kaye stand neben ihm und hob den Zeigefinger. »Sagen Sie mir, dass es Ihnen ausschließlich um Wissenschaft geht.«
»Natürlich nicht. Kaye, ich war auf den Stufen des Kapitols. Ich hätte einer von diesen armen Teufeln sein können, die erschossen oder totgetrampelt wurden.«
»Davon rede ich nicht. Sagen Sie mir, dass Sie Mitch nach unserem Gespräch in San Diego zurückgerufen haben.«
»Das habe ich nicht getan.«
»Und warum nicht?«
Dicken starrte sie an. »Nach der letzten Nacht sind alle persönlichen Dinge nebensächlich, Kaye.«
»Wirklich?«
Dicken verschränkte die Arme. »Jemanden wie Mitch könnte ich niemals bei Augustine vorstellen und dann darauf hoffen, dass es Ihre Position stärkt. Mitch hatte interessante Informationen, aber die haben nur bewiesen, dass wir schon seit langem mit SHEVA leben.«
»Er
Weitere Kostenlose Bücher