Das Darwin-Virus
unterschiedliche Neandertalerskelette, alle professionell aufgebaut; bei sechs Skeletten hatte man das Aussehen der Individuen mit Hilfe von Wachs rekonstruiert. Nirgendwo war der Versuch unternommen worden, aus Schamgefühl etwas zu verfälschen: Sämtliche Modelle waren nackt und unbehaart, was Spekulationen über Kleidung und Haarwuchs von vornherein ausschloss.
Reihe um Reihe mit haarlosen Affen, angestrahlt durch elegante, respektvoll abgedämpfte Scheinwerfer, starrte Mitch mit leerem Blick an, als er daran vorüberging.
»Unglaublich«, bemerkte er ein wenig verlegen. »Warum habe ich noch nie von Ihnen gehört, Mr. Daney?«
»Ich habe nur zu wenigen Leuten Kontakt. Zur Familie Leakey, zu Björn Kurten und noch ein paar anderen. Zu meinen engen Freunden. Ich weiß, ich bin ein Exzentriker, aber ich hänge es nicht gern an die große Glocke.«
»Jetzt gehören Sie zu den Auserwählten«, sagte Merton zu Mitch.
»Professor Brock ist in der Bibliothek.« Daney zeigte ihnen den Weg. Mitch wäre gern noch länger in dem Saal geblieben.
Es waren ausgezeichnete Wachsfiguren, und die Reproduktionen der Funde waren erstklassig, vom Original kaum zu unterscheiden.
»Nein, ich bin schon hier. Ich konnte es nicht erwarten.« Brock kam hinter einer Vitrine hervor. »Ich glaube, wir kennen uns, Dr. Rafelson. Und haben wir nicht gemeinsame Bekannte?«
Unter Daneys strahlendem, beifällig beobachtendem Blick gaben Brock und Mitch einander die Hand. Sie gingen ein paar Dutzend Meter weiter in die benachbarte Bibliothek, die wie ein Musterbeispiel edwardianischer Eleganz wirkte: drei Stockwerke mit Galerien, von Geländern gesäumt und durch zwei schmiedeeiserne Brücken verbunden. Beiderseits des einzigen hohen, nach Norden gehenden Fensters hingen riesige Gemälde, dramatische Stimmungsbilder des YosemiteTals und der Alpen.
Sie setzten sich um einen großen, niedrigen Tisch, der die Mitte des Raumes einnahm. »Als Allererstes habe ich eine Frage«, sagte Brock. »Träumen Sie eigentlich von ihnen, Dr. Rafelson? Bei mir ist das nämlich der Fall, und zwar oft.«
Daney servierte selbst den Kaffee, den eine stämmige, trübsinnig wirkende Frau im schwarzen Kostüm in die Bibliothek gerollt hatte. Er schenkte jedem in eine Tasse aus FloraDanicaPorzellan ein – das Dekor des Services, gemalt nach wissenschaftlichen Zeichnungen des neunzehnten Jahrhunderts, zeigte mikroskopisch kleine, in Dänemark heimische Pflanzen. Mitch betrachtete seine Untertasse, die mit drei wunderschön ausgeführten Dinoflagellaten verziert war, und fragte sich, was er wohl tun würde, wenn er so viel Geld hätte, dass er unmöglich alles ausgeben konnte.
Brock nahm das Gespräch wieder auf: »Eigentlich glaube ich nicht an Träume, aber diese Menschen verfolgen mich.«
Mitch blickte von einem zum anderen; er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Es erschien ihm durchaus möglich, dass die Verbindung zu Daney, zu Brock, ja sogar zu Merton sich für ihn nachteilig auswirken konnte. Vielleicht hatte er in dieser Arena einfach schon zu oft eins auf die Nase bekommen.
Merton spürte seine unguten Gefühle. »Diese Zusammenkunft ist ausschließlich privater Natur und wird geheim bleiben«, sagte er. »Ich werde über nichts berichten, was hier gesagt wird.«
»Auf meinen Wunsch hin«, ergänzte Daney und hob viel sagend die Augenbrauen.
»Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie in Ihrer Einschätzung offenbar Recht haben«, sagte Brock. »Mit dem Urteilsvermögen, das Sie bewiesen haben, indem sie bestimmte Personen ausgewählt und sich bestimmte Dinge aus unserer Forschungsarbeit angeeignet haben. Aber man hat mich kürzlich von allen Aufgaben, die mit den Mumien aus den Alpen zu tun hatten, entbunden. Die Diskussionen haben sich auf die persönliche Ebene verlagert und sind für unser aller Berufslaufbahn nicht ungefährlich.«
»Nach Dr. Brocks Ansicht sind die Mumien der erste eindeutige Beleg für ein Artbildungsereignis beim Menschen«, sagte Merton in der Hoffnung, das Gespräch voranzubringen.
»Eigentlich für die Bildung einer Unterart«, fügte Brock hinzu.
»Aber der Artbegriff ist in den letzten Jahrzehnten sehr unscharf geworden, stimmt’s? Am aufschlussreichsten ist, dass ihr Gewebe SHEVA enthält, finden Sie nicht?«
Daney beugte sich, Wangen und Stirn vor heftigem Interesse gerötet, auf seinem Sessel nach vorn.
Mitch sah ein, dass er unter solchen Gesinnungsgenossen keine Zurückhaltung üben konnte. »Wir haben
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