Das Darwin-Virus
Polizei hatte eingegriffen und die Menge provoziert, sodass sie in immer kleinere, unkontrollierte Gruppen zerfallen war. Tumulte waren ausgebrochen. Sie hatten Brände gelegt und Autos umgestürzt.
»Wo erreiche ich dich, Mitch?«, murmelte sie und nahm das Telefon aus der Ladeschale. Sie blätterte im Telefonbuch und suchte nach der Nummer des YMCA, da klingelte das Telefon in ihrer Hand.
Ungeschickt hob sie es ans Ohr. »Hallo?«
»Schon wieder der Böse Schwarze Mann. Wie geht’s dir?«
»Mitch, Gott sei Dank. Mir geht’s gut, aber ich bin todmüde.«
»Ich bin durch die ganze Stadt gelaufen. Sie haben einen Teil des Tagungszentrums in Brand gesteckt.«
»Ich weiß. Wo bist du jetzt?«
»Nur einen Block weiter. Ich kann dein Haus und den PeptoBismol Tower sehen.«
Kaye lachte. »BromoSeltzer. Blau, nicht rosa.« Sie holte tief Luft. »Ich will nicht mehr, dass du hier bist, Mitch. Ich meine, ich will mit dir nicht mehr hier sein. Mitch, ich rede Unsinn. Ich brauche dich so nötig. Bitte komm. Ich will packen und abhauen.
Der Leibwächter ist noch da, aber unten in der Lobby. Ich sage ihm, dass er dich reinlassen soll.«
»Ich habe nicht mal versucht, die Stelle an der SUNY zu bekommen«, sagte Mitch.
»Und ich habe bei Americol und der Taskforce gekündigt. Jetzt geht es uns beiden gleich.«
»Wir sind beide Landstreicher?«
»Arbeitslos und heimatlos und ohne erkennbare Mittel zum Lebensunterhalt. Abgesehen von einem dicken Bankkonto.«
»Wohin gehen wir?«
Kaye griff in ihre Handtasche und holte die beiden kleinen Schachteln mit den SHEVATestkits heraus, die sie aus dem Handlager im siebten Stock von Americol mitgenommen hatte.
»Wie wär’s mit Seattle? Da hast du doch eine Wohnung, oder?«
»Ja.«
»Hervorragend. Ich brauche dich, Mitch. Lass’ uns für immer und ewig in deinem Junggesellenappartement in Seattle leben.«
»Du spinnst. Ich komme gleich rüber.«
Er legte auf, und sie lachte erleichtert, aber plötzlich brach sie in Schluchzen aus. Sie streichelte sich die Wange mit dem Telefon, erkannte, wie verrückt das war, und legte es hin. »Ich bin wirklich nicht mehr ganz richtig im Kopf«, sagte sie zu sich selbst und ging in die Küche. Sie beförderte ihre Schuhe mit einem Fußtritt von sich, nahm einen ParrishKunstdruck, der ihrer Mutter gehört hatte, von der Wand und legte ihn auf den Esstisch. Dann stapelte sie alle anderen Bilder darauf, die zu ihr gehörten, zu ihrer Familie, ihrer Vergangenheit.
In der Küche ließ sie sich aus dem Hahn am Kühlschrank ein Glas kaltes Wasser einlaufen. »Scheiß auf den Luxus, scheiß auf die Sicherheit. Scheiß auf den Anstand.« Sie arbeitete eine Liste von zehn weiteren Dingen ab, auf die sie scheißen wollte, und am Ende stand »dieses verdammt dumme Ich «.
Dann fiel ihr ein, dass sie Benson von Mitchs Kommen unterrichten musste.
64
Atlanta
Dicken ging in sein altes Büro im Tiefkeller des Gebäudes 1, Clifton Road. Auf dem Weg öffnete er die Kunststoffumhüllung eines Pakets mit neuem Material – Sicherheitsausweis nach Bundesstandard, druckfrische Vorschriften über neue Sicherheitsmaßnahmen, Themen für die Interviews, die im weiteren Verlauf der Woche angesetzt waren.
Er hatte nie geglaubt, dass es so weit kommen würde. Auf dem Gelände und an dessen Grenzen patrouillierte die Nationalgarde.
Gewalttätige Ausschreitungen hatte es bei den CDC zwar noch nicht gegeben, aber Drohungen erreichten die Telefonzentrale bis zu zehn Mal am Tag.
Nachdem er sein Büro aufgeschlossen hatte, blieb er für kurze Zeit in dem kleinen Raum stehen, um Kühle und Ruhe auf sich wirken zu lassen. Er wünschte sich, er könne jetzt in Lagos oder Tegucigalpa sein. Bei der Arbeit unter widrigen Bedingungen und an abgelegenen Orten fühlte er sich eher zu Hause als hier; selbst Georgien war nach seinem Geschmack schon zu zivilisiert und damit zu gefährlich gewesen.
Viren waren ihm lieber als außer Rand und Band geratene Menschen.
Er ließ das Päckchen auf seinen Schreibtisch fallen. Einen Augenblick lang wusste er nicht mehr, warum er eigentlich hier war.
Er wollte für Augustine etwas holen. Dann fiel es ihm wieder ein: die Berichte des Northside Hospital über die Primärschwangerschaften. Augustine arbeitete an einem Plan, der so streng geheim war, dass auch Dicken nichts Näheres darüber wusste, aber er erforderte, dass alle Akten im Haus, die mit SHEVA oder HERV zu tun hatten, kopiert wurden.
Als er die Berichte gefunden hatte,
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