Das doppelte Lottchen
ERSTES KAPITEL
Seebühl am Bühlsee – Kinderheime sind wie Bienenstöcke – Ein Autobus mit zwanzig Neuen – Locken und Zöpfe – Darf ein Kind dem andern die Nase abbeißen? – Der englische König und sein astrologischer Zwilling – Über die Schwierigkeit, Lachfältchen zu kriegen
Kennt ihr eigentlich Seebühl? Das Gebirgsdorf Seebühl? Seebühl
am Bühlsee? Nein? Nicht? Merkwürdig – keiner, den man fragt,
kennt Seebühl! Womöglich gehört Seebühl am Bühlsee zu den
Ortschaften, die ausgerechnet nur jene Leute kennen, die man nicht fragt? Wundern würde mich‘s nicht. So etwas gibt’s.
Nun, wenn ihr Seebühl am Bühlsee nicht kennt, könnt ihr
natürlich auch das Kinderheim in Seebühl am Bühlsee nicht kennen, das bekannte Ferienheim für kleine Mädchen. Schade. Aber es macht nichts. Kinderheime ähneln einander wie Vierpfundbrote oder
Hundsveilchen. Wer eines kennt, kennt sie alle. Und wer an ihnen vorüberspaziert, könnte denken, es seien riesengroße Bienenstöcke.
Es summt von Gelächter, Geschrei, Getuschel und Gekicher. Solche Ferienheime sind Bienenstöcke des Kinderglücks und Frohsinns.
Und so viele es geben mag, wird es doch nie genug davon geben
können.
Freilich abends, da setzt sich zuweilen der graue Zwerg
Heimweh an die Betten im Schlafsaal, zieht sein graues Rechenheft und den grauen Bleistift aus der Tasche und zählt ernsten Gesichts die Kindertränen ringsum zusammen, die geweinten und die
ungeweinten.
Aber am Morgen ist er, hast du nicht gesehen, verschwunden!
Dann klappern die Milchtassen, dann plappern die kleinen Mäuler wieder um die Wette. Dann rennen wieder die Bademätze rudelweise in den kühlen, flaschengrünen See hinein, planschen, kreischen, jauchzen, krähen, schwimmen oder tun doch wenigstens, als
schwömmen sie.
So ist’s auch in Seebühl am Bühlsee, wo die Geschichte anfängt, die ich euch erzählen will. Eine etwas verzwickte Geschichte. Und ihr werdet manchmal höllisch aufpassen müssen, damit ihr alles
haargenau und gründlich versteht. Zu Beginn geht es allerdings noch ganz gemütlich zu. Verwickelt wird’s erst in den späteren Kapiteln.
Verwickelt und ziemlich spannend.
Vorläufig baden sie alle im See, und am wildesten treibt es wie immer ein kleines neunjähriges Mädchen, das den Kopf voller
Locken und Einfälle hat und Luise heißt, Luise Palffy. Aus Wien.
Da ertönt vom Haus her ein Gongschlag. Noch einer und ein
dritter. Die Kinder und die Helferinnen, die noch baden, klettern ans Ufer.
»Der Gong gilt für alle!« ruft Fräulein Ulrike. »Sogar für Luise!«
»Ich komm ja schon!« schreit Luise. »Ein alter Mann ist doch
kein Schnellzug!«
Und dann kommt sie tatsächlich.
Fräulein Ulrike treibt ihre schnatternde Herde vollzählig in den Stall, ach nein, ins Haus. Zwölf Uhr, auf den Punkt, wird zu Mittag gegessen.
Und dann wird neugierig auf den Nachmittag gelauert. Warum?
Am Nachmittag werden zwanzig »Neue« erwartet. Zwanzig
kleine Mädchen aus Süddeutschland. Werden ein paar Zieraffen
dabeisein? Ein paar Klatschbasen? Womöglich uralte Damen von
dreizehn oder gar vierzehn Jahren? Werden sie interessante
Spielsachen mitbringen? Hoffentlich ist ein großer Gummiball
darunter! Trudes Ball hat keine Luft mehr. Und Brigitte rückt ihren nicht heraus. Sie hat ihn im Schrank eingeschlossen. Ganz fest.
Damit ihm nichts passiert. Das gibt’s auch.
Nun, am Nachmittag stehen also Luise, Trude, Brigitte und die
anderen Kinder an dem großen, weitgeöffneten eisernen Tor und
warten gespannt auf den Autobus, der die Neuen von der nächsten Bahnstation abholen soll. Wenn der Zug pünktlich eingetroffen ist, müßten sie eigentlich…
Da hupt es! »Sie kommen!« Der Omnibus rollt die Straße
entlang, biegt vorsichtig in die Einfahrt und hält. Der Chauffeur steigt aus und hebt fleißig ein kleines Mädchen nach dem anderen aus dem Wagen. Doch nicht nur Mädchen, sondern auch Koffer und
Taschen und Puppen und Körbe und Tüten und Stoffhunde und
Roller und Schirmchen und Thermosflaschen und Regenmäntel und
Rucksäcke und gerollte Wolldecken und Bilderbücher und
Botanisiertrommeln und Schmetterlingsnetze, eine kunterbunte
Fracht.
Zum Schluß taucht, mit seinen Habseligkeiten, im Rahmen der
Wagentür das zwanzigste kleine Mädchen auf. Ein ernst
dreinschauendes Ding. Der Chauffeur streckt bereitwillig die Arme hoch.
Die Kleine schüttelt den Kopf, daß beide Zöpfe schlenkern.
»Danke, nein!« sagt
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