Das doppelte Lottchen
von nichts
anderem. Und noch abends flüstern sie stundenlang in ihren Betten.
Jede entdeckt einen anderen, einen neuen Kontinent. Das, was bis jetzt von ihrem Kinderhimmel umspannt wurde, war ja, wie sich
plötzlich herausgestellt hat, nur die eine Hälfte ihrer Welt!
Und wenn sie wirklich einmal nicht damit beschäftigt sind, voller Eifer diese beiden Hälften aneinanderzufügen, um das Ganze zu
überschauen, erregt sie ein anderes Thema, plagt sie ein anderes Geheimnis: Warum sind die Eltern nicht mehr beisammen?
»Erst haben sie natürlich geheiratet«, erklärt Luise zum
hundertsten Male. »Dann haben sie zwei kleine Mädchen gekriegt.
Und weil Mutti Luiselotte heißt, haben sie das eine Kind Luise und das andere Lotte getauft. Das ist doch sehr hübsch! Da müssen sie einander doch noch gemocht haben, nicht?«
»Bestimmt!« sagt Lotte. »Aber dann haben sie sich sicher
gezankt. Und sind voneinander fort. Und haben uns selber genauso entzweigeteilt wie vorher Muttis Vornamen!«
»Eigentlich hätten sie uns erst fragen müssen, ob sie uns halbieren dürfen!«
»Damals konnten wir ja noch gar nicht reden!«
Die beiden Schwestern lächeln hilflos. Dann haken sie einander
unter und gehen in den Garten.
Es ist Post gekommen. Überall, im Gras und auf der Mauer und
auf den Gartenbänken, hocken kleine Mädchen und studieren Briefe.
Lotte hält die Fotografie eines Mannes von etwa fünfunddreißig
Jahren in den Händen und blickt mit zärtlichen Augen auf ihren
Vater. So sieht er also aus! Und so wird es einem ums Herz, wenn man einen wirklichen, lebendigen Vater hat!
Luise liest vor, was er schreibt: »Mein liebes, einziges
Kind!« – »So ein Schwindler!« sagt sie hochblickend. »Wo er
doch genau weiß, daß er Zwillinge hat!« Dann liest sie weiter:
»Hast Du denn ganz vergessen, wie Dein
Haushaltungsvorstand aussieht, daß Du unbedingt, noch dazu
zum Ferienschluß, eine Fotografie von ihm haben willst? Erst wollte ich Dir ja ein Kinderbild von mir schicken. Eines, wo ich als
nackiges Baby auf einem Eisbärenfell liege! Aber Du schreibst, daß es unbedingt ein funkelnagelneues Bild sein muß! Na, da bin ich gleich zum Fotografen gerannt, obwohl ich eigentlich gar keine Zeit hatte, und habe ihm genau erklärt, weswegen ich das Bild so eilig brauche. Sonst, habe ich ihm gesagt, erkennt mich meine Luise nicht wieder, wenn ich sie von der Bahn abhole! Das hat er zum Glück
eingesehen. Und so kriegst Du das Bild noch rechtzeitig. Hoffentlich tanzt Du den Fräuleins im Heim nicht so auf der Nase herum wie
Deinem Vater, der Dich tausendmal grüßt und große Sehnsucht nach Dir hat!«
»Schön!« sagt Lotte. »Und lustig! Dabei sieht er auf dem Bild so ernst aus!«
»Wahrscheinlich hat er sich vor dem Fotografen geniert, zu
lachen«, vermutet Luise. »Vor anderen Leuten macht er immer ein strenges Gesicht. Aber wenn wir allein sind, kann er sehr komisch sein.«
Lotte hält das Bild ganz fest. »Und ich darf es wirklich
behalten?«
»Natürlich«, sagt Luise, »deswegen hab’ ich’s mir doch schicken lassen!«
Die pausbäckige Steffie sitzt auf einer Bank, hält einen Brief in der Hand und weint. Sie gibt dabei keinen Laut von sich.
Die Tränen rollen unaufhörlich über das runde, unbewegliche
Kindergesicht.
Trude schlendert vorbei, bleibt neugierig stehen, setzt sich
daneben und schaut Steffie abwartend an.
Christine kommt hinzu und setzt sich auf die andere Seite. Luise und Lotte nähern sich und bleiben stehen.
»Fehlt dir etwas?« fragt Luise.
Steffie weint lautlos weiter. Plötzlich senkt sie die Augen und sagt monoton: »Meine Eltern lassen sich scheiden!«
»So eine Gemeinheit!« ruft Trude. »Da schicken sie dich erst in die Ferien, und dann tun sie so was! Hinter deinem Rücken!«
»Der Papa liebt, glaub’ ich, eine andere Frau«, schluchzt Steffie.
Luise und Lotte gehen rasch weiter. Was sie eben gehört haben,
bewegt ihre Gemüter aufs heftigste.
»Unser Vater«, fragt Lotte, »hat doch aber keine neue Frau?«
»Nein«, erwidert Luise. »Das wüßte ich.«
»Vielleicht eine, mit der er nicht verheiratet ist?« fragt Lotte zögernd.
Luise schüttelt den Lockenkopf. »Bekannte hat er natürlich.
Auch Frauen. Aber du sagt er zu keiner! Aber wie ist das mit Mutti?
Hat Mutti einen – einen guten Freund?«
»Nein«, meint Lotte zuversichtlich. »Mutti hat mich und ihre
Arbeit, und sonst will sie nichts vom Leben, sagt sie.«
Luise blickt die Schwester
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