Das Dorf der verschwundenen Kinder
du das gehört, Rosie? Da brennt eine Kerze für dich. Wollen wir mal hoffen, daß es eine von diesen dicken großen ist, hm? Und daß sie lange, lange brennt.«
Er nahm »Nina und der Nix« wieder auf. Hatte das überhaupt einen Sinn? fragte er sich. Konnte sie überhaupt etwas hören?
Überflüssige Frage. Er begann wieder zu lesen.
Rosie Pascoe liegt in einer Ecke, wo der Nix sie hingeworfen hat. Sie liegt sehr unbequem. Kleine spitze Felssteine pieken ihr in den Rücken. Aber sie wagt es nicht, sich zu rühren.
Der Nix sitzt ein paar Meter vor ihr und starrt sie die ganze Zeit an, als versuche er zu entscheiden, was er tun soll. Ist da Mitleid in seinen Augen? Sie versucht, es zu erkennen, doch sie sieht nur eine furchterregende Leere.
Dann, irgendwo weit über sich, hört sie ein Telefon klingeln.
Der Nix sieht nach oben. Sie sieht auch nach oben. Und sie erkennt, daß es kein Telefon ist. Es ist das Quieken der Fledermaus, die kopfunter an der Höhlendecke hängt.
Der Nix sieht immer noch nach oben. Er hat seine schwimmhäutigen Hände um die Ohren gelegt und lauscht angestrengt. Der Anblick ist fast komisch, aber Rosie ist nicht nach Lachen zumute. Sie ahnt, daß ihr jede Nachricht von dort oben zum Verhängnis werden kann.
Doch sie nutzt die Gelegenheit, um ein paar spitze Steine unter ihrem schmerzenden Rücken wegzuschieben. Nur, als sie sie berührt, fühlen sie sich gar nicht wie Steine an. Und als sie sie anschaut, sind es Knochen.
Nun lauscht auch sie angestrengt in die Dunkelheit und bildet sich ein, diese hohen fremden Töne tatsächlich zu hören. Wie laut sie dem Nix erscheinen, kann sie nur vermuten, aber er nickt, wie um zu zeigen, daß er verstanden hat … und gehorchen wird.
Dies könnte ihre letzte Gelegenheit zur Flucht sein. Der Nix hockt zwischen ihr und dem Höhleneingang, durch den das schwache Licht hereinschimmert und eine sonnenhelle Welt verspricht. Ist er so verzückt von dem, was er hört, daß sie sich an ihm vorbeischleichen und noch einmal versuchen kann, den Gang hinaufzurennen? Sie muß es versuchen.
Sie bewegt sich ganz langsam und erhebt sich mit unendlicher Vorsicht vom knochenübersäten Boden. Dann, gerade als sie es auf alle viere geschafft hat, spürt sie einen Griff um ihre linke Hand.
Verwirrt blickt sie nach unten. Der Griff ist fest, aber es ist nicht die Klaue eines Ungeheuers, die sie da hält. Es ist eine Kinderhand. Sie läßt ihren Blick den schmalen, weißen Arm entlangwandern und sieht schließlich in das Gesicht eines anderen Mädchens, das aussieht wie sie selbst. Nein, nicht ganz wie sie, denn ihr Haar ist lang und blond, während Rosies kurz und schwarz ist. Aber sie sieht in dem blassen Gesicht dasselbe grausige Entsetzen, das auch sie verspürt. Und das Gesicht erkennt sie nun auch, zumindest glaubt sie das. Zuerst ist es Ninas Gesicht aus dem Märchen. Dann ist es das Gesicht ihrer Freundin Zandra. Dann plötzlich sieht sie ein anderes blondes Mädchen, das sie nicht kennt.
»Hilf mir«, sagte die Neue. »Bitte, hilf mir.«
Doch ein Blick auf den Nix verrät Rosie, daß es für jede Hilfe bereits zu spät ist. Er läßt die Hände von den Ohren sinken und starrt sie wieder durchdringend an.
Und seine Augen sind nicht mehr leer und ausdruckslos.
Nein, sie funkeln und glühen, funkeln und glühen.
Sieben
S hirley Novello war immer der Meinung gewesen, man brauche eine Verfügung vom Obersten Gerichtshof, wenn nicht gar einen päpstlichen Erlaß, um eine Bank zum Brechen des Bankgeheimnisses zu bewegen. Nun aber mußte sie feststellen, daß alle Schlösser aufbrachen, sobald die Mid-Yorkshire-Version des Sesam, öffne dich in Form von Dalziels Namen erklang.
Vielleicht war es ja auch ihr Lächeln gewesen, dachte sie, während sie Pascoes Anweisungen aufs Wort befolgte und Willie Noolan in der Mid-Yorkshire Savings Bank verschwörerisch anlächelte.
Er erwiderte ihr Lächeln mehr lüstern als verschwörerisch und beugte sich über die Tastatur seines Computers.
»Die alte Agnes Lightfoot? Lebt die noch? Bei Gott, Sie haben recht«, sagte er mit einem Blick auf den Bildschirm. »Ist nicht viel, aber immerhin. Da wird keiner reich von, wenn sie den Löffel abgibt.«
»Mr. Dalziel interessiert sich mehr für die Vorgänge vor fünfzehn Jahren.«
»Bevor wir auf Computer umstellten …« Noolan sprach mit nostalgischem Unterton.
»Dann haben Sie also keine Belege mehr?« fragte Novello enttäuscht.
»Ich bitte Sie! Man wird keine
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