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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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legte den Hörer auf, hob ihn wieder hoch und wählte die Einsatzzentrale in Danby. Wield sei da, im Moment aber nicht zu sehen, also hinterließ sie ihren Bericht bei Inspector Headingley, der ihr onkelhaft dankte, als wäre sie ein kleines Mädchen, das wegen seiner Lispelstimme und goldenen Locken in der Erwachsenenwelt geduldet wurde. Doch irgendwie war das sogar angenehmer als die erwartete Antwort von Sergeant Wield, dem es sicher gar nicht recht war, daß sie dieses BENNY IST WIEDER DA !-Szenario stützen konnte.
    War er denn wieder da? fragte sie sich. Nun, irgend jemand war ganz sicher zurück.
    Sie stand am Fenster ihres Dezernats, das in der Hoffnung auf eine ermutigend kühle Brise weit geöffnet war. Doch alles, was hereinkam, waren Lärm und Gestank der vorbeifahrenden Autos. Sie blickte zum blauen Himmel hinauf, als erwarte sie von dort einen Fingerzeig auf Agnes’ mysteriösen Besucher.
    Hätte sie statt dessen ihre Augen in Demut gesenkt, hätte sie vielleicht ebendiesen Mann vor dem Haupteingang des Polizeipräsidiums von Mid-Yorkshire stehen und auf die alte blaue Laterne blicken sehen, die noch immer dort hing. Sie hätte vielleicht gemerkt, daß dieser Mann einen Moment lang mit dem Gedanken spielte, hineinzugehen und jemandem anzuvertrauen, was ihn bedrückte.
    Doch dann war dieser Moment vorbei. Der Mann drehte sich um und war mit wenigen Schritten in der Menge verschwunden.

Acht
    D alziel tunkte seinen Keks in den »Tee danach«, führte ihn zum Mund, ehe er abbrechen konnte, biß hinein und nuschelte schmatzend: »Du meine Fresse!«
    »Schlimmer Zahn?« fragte Cap Marvell mitfühlend.
    »Nein. Das ist ein Grannie’s Golden Shortie.«
    »Ist das ein Problem?«
    »Für meinen Vater war es eins«, erwiderte Dalziel. »Es war nämlich sein Rezept.«
    Cap fiel ein, daß sie absolut nichts über Dalziel wußte, bevor er Polizist wurde, und kaum etwas über die Zeit, bevor er sich als Detective Superintendent in ihr Bett – und Herz – gehievt hatte.
    In ersterem lag er jetzt, weil sie nach seinem Klingeln am Abend zuvor gemerkt hatte, daß er das letztere nie verlassen hatte.
    Er war im Krankenhaus gewesen, um die kranke Tochter seines Kollegen zu besuchen. Am Nachmittag hatte es wohl eine Krise gegeben, aber jetzt war das Kind wieder stabil. Die Eltern waren natürlich vollkommen fertig, und Dalziel hatte, wie sie vermutete, all seine Energie in aufmunternd optimistische Worte gesteckt. Als er auf ihrer Türschwelle stand, wirkte er ganz und gar kraftlos, was etwa so schockierend war wie der Anblick eines ausgetrockneten Loch Lomond. Er hatte von dem kranken Kind erzählt, von dem vermißten Kind, von den Kindern aus Dendale, und das auf so uncharakteristisch unzusammenhängende Weise, daß es irgendwann schwierig wurde, die einzelnen Geschichten auseinanderzuhalten. Dabei wurde allerdings deutlich, daß er sich auf irgendeine Art für alle verantwortlich fühlte, und der Schmerz ihrer Eltern wog so schwer, daß selbst seine breiten Schultern ihn kaum noch tragen konnten.
    Sie hatte ihm Whisky gegeben und dreimal nachgeschenkt, und erst als das dritte Glas leer war, hörte er auf zu reden, leckte sich die Lippen, schnüffelte und sagte anklagend: »Das ist Macallan. Fünfundzwanzigjähriger.«
    »Stimmt.«
    In den alten Zeiten war ihre Ignoranz gegenüber den Feinheiten von Single Malt Whiskys und ihre Vorliebe für den Kauf von ›Sandpapierwhiskys‹, wie Dalziel sie nannte, ein Hauptreibungspunkt gewesen.
    »Kommt heut noch wer?«
    »Bisher nicht. Aber man kann ja hoffen«, erwiderte sie.
    Auf diese Zweideutigkeit hin hatte Dalziel gehandelt.
    Es war eine eher ungestüme als zärtliche Begegnung gewesen, doch das hatte ihr so sehr gefallen, daß sie auf seine noch etwas atemlose, aber sehnsuchtsvolle Bitte: »Hmm, für eine Tasse Tee könnt ich jetzt ’nen Mord begehen«, demütig aus dem Bett geschlüpft war und welchen gekocht hatte.
    Auch im emanzipiertesten Haushalt gab es Zeiten, zu denen ein Mann verwöhnt werden mußte.
    Der Keks war so etwas wie eine Zugabe gewesen.
    »Dein Vater war also Bäcker?« fragte Cap nun.
    »Ja. Bäckermeister sogar. Ging aus gesundheitlichen Gründen aus Glasgow weg und kriegte ’ne Stelle bei Ebor.«
    Die Ebor Kekse- und Konfekt-Fabrik war eine der größten Industrien von Mid-Yorkshire.
    »Aus gesundheitlichen Gründen? War er krank?«
    »Sei nicht albern«, sagte Dalziel, entsetzt über die Vorstellung, daß die Lenden, denen er entsprungen war,

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