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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Rauchwölkchen?« höhnte sie.
    »Nein. Am Hang gibt es jede Menge Senken und Spalten. Er verschwand außer Sicht und tauchte nicht wieder auf. Ich nahm an, daß er zur einen oder anderen Seite abgetaucht war.«
    Jetzt ahnte sie, worauf er hinauswollte. Benny/Barney war zur Danby-Seite hin verschwunden und hatte Lorraine getroffen und … Netter Versuch, Walter. Aber er funktionierte nicht.
    Novello meinte, wieder alles unter Kontrolle zu haben, und fuhr fort, das Terrain zu ebnen.
    »Was ist mit Ihnen, Mr. Krog? Haben Sie gesehen, wohin der Mann verschwand?«
    »Nein. Ich sah, wie Walter in seine Richtung ging, dann kehrte ich auf dem Leichenpfad um.«
    »Und haben Sie Mr. Wulfstan noch mal gesehen?«
    »Erst später am Tag in seinem Haus.«
    Jetzt bist du also allein, Wulfstan. Nur du und ich.
    Und das Kind.
    »Also, was geschah dann, Mr. Wulfstan?« fragte sie ruhig. »Sind Sie den Grat entlanggegangen und haben rechts und links nach dem Mann gesucht, denn Sie für Benny Lightfoot hielten? Und haben Sie zum Ligg Beck hinuntergeblickt und dort unten jemanden gesehen? War es ein Mädchen, das Sie gesehen haben, Mr. Wulfstan?«
    Vor Gericht würde das wohl Beeinflussung des Zeugen heißen. Sie hoffte beinahe, er würde sich nicht beeinflussen lassen, damit sie ihn voller Wut in die Enge treiben könnte.
    Doch er leugnete es nicht.
    »Ja«, sagte er. »Ja, ich habe hinuntergeblickt. Und ein kleines Mädchen gesehen. Ich habe Mary gesehen.«
    »Mary?« Novello war einen Moment lang verwirrt. Gegen ihren Willen warf sie seitwärts einen Blick auf die Männer. Pascoe nickte ihr aufmunternd zu. Wield, der mit der Dendale-Akte und dem großen Umschlag in den Händen wieder bei ihnen saß, war undurchschaubar wie immer. Dalziel starrte auf Wulfstan und runzelte die Stirn.
    Da wandte auch sie ihren Blick wieder Wulfstan zu. Er wollte sich also immer noch herauswinden, wie? Novello sammelte Kraft für einen direkten Angriff.
    »Kommen Sie, Mr. Wulfstan! Sie meinen doch Lorraine, oder nicht? Sie blickten ins Tal und sahen Lorraine Dacre.«
    Es knirschte und krachte, als Dalziel sich auf seinem Stuhl vorbeugte.
    »Nein, Herzchen«, korrigierte er freundlich. »Er meint Mary. Stimmt’s, Mr. Wulfstan? Sie guckten zum Ligg Beck runter und sahen Ihre Tochter Mary. Und sie sah aus wie das letzte Mal, als Sie sie gesehn hatten, vor fünfzehn Jahren.«
    Und zum erstenmal, seit sie sich kannten, betrachtete Wulfstan Andy Dalziel beinahe voller Dankbarkeit und sagte: »Ja. Das stimmt, Superintendent. Ich habe meine Mary gesehen.«

Zwanzig
    D er Himmel schimmert wie aufgeplusterte Seide, die Sonne taumelt trunken, der felsige Grat unter seinen Füßen federt wie ein Trampolin. Nach so vielen Jahren, nach so viel Schmerz ist sie da, so blond und strahlend, wie er sie in Erinnerung hat, keinen Tag älter, kein bißchen verändert. Der Geist des Mannes, der sie ihm genommen hatte, brachte ihn zu ihr zurück.
    Er überlegt keine Sekunde, warum sie in all den Jahren nicht älter geworden ist. Er fragt sich nicht, warum sie in diesem Tal spaziert anstatt in Dendale, wo sie damals verschwand. Er denkt keinen Augenblick über den steilen Abhang nach. Statt dessen rast er den Berg hinunter wie ein Bergläufer in Bestform. Leichtfüßig springt er von Vorsprung zu Vorsprung. Unter ihm, am Rand der tiefen Schlucht, durch die der Beck außer Sicht fließt, pflückt sie Blumen und denkt an nichts als an sich selbst und die Blumen zu ihren Füßen und vielleicht noch an den kleinen Hund neben sich, der Bienen und Fliegen und die Luft anbellt.
    Er ruft ihren Namen. Er ist zu sehr außer Atem, um laut zurufen, aber er ruft trotzdem. Der Hund hört ihn als erstes und sieht ihn an, während sein Bellen sich in tiefes Knurren verwandelt. Er ruft erneut, lauter diesmal, und jetzt hört das Mädchen ihn.
    »Mary!«
    Sie dreht sich um und blickt nach oben. Sie sieht, wie ein Wesen mit weit aufgerissenen Augen auf sie zustürmt, mit den Lippen seltsame Worte formt, die Arme ausbreitet und mit entkräfteten Beinen zu taumeln beginnt. Sie läßt die Blumen fallen. Sie will weglaufen. Er ruft wieder. Sie rennt blindlings davon. Der Rand der Schlucht kommt näher. Sie blickt zurück und sieht seine ausgestreckten Arme, die sie packen wollen.
    Und sie fällt.
     
    »Als ich bei ihr ankam, konnte ich zwei Dinge feststellen. Ich sah, daß sie nicht Mary war. Und ich sah, daß sie tot war.«
    Novello starrte ihn wütend an und versuchte, ihm nicht zu glauben.

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