Das Drachentor
anschwellende Flut, doch er entdeckte nicht die roten Banner, an denen er die Myrdhaner erkannt hätte. Es waren nicht seine Eltern, nicht die Mütter und Väter und Brüder und Schwestern der umliegenden Dörfer. Es waren Haradonen.
Ihr Heer war hier. Myrdhan musste die Schlacht verloren haben! Und Alasars Eltern, die Erwachsenen … Eine brodelnde Panik schwemmte alle Gedanken fort. Alasar riss sich vom Anblick des Heeres los und kletterte die Felsen hinunter. Er zitterte, schrammte sich Hände, Knie und Ellbogen am rauen Stein auf, sprang ins Gras und ignorierte dabei den Schmerz in seinen Gelenken. So schnell er konnte, rannte er auf das Dorf zu. Die Holzpflöcke, die es zum Schutz umgaben, erschienen Alasar lächerlich wie Zündhölzer angesichts der dunklen Massen, die sich darauf zu bewegten. »Alarm! Alarm, Alarm!«
Die Kinder kamen aus ihren Hütten gerannt, manche waren auf dem Arm ihrer Großeltern, die beinahe noch ängstlicher dreinblickten als die Jungen und Mädchen.
»Die Haradonen!«, schrie Alasar und riss eine Tür nach der anderen auf, bis alle Kinder die Neuigkeit gehört hatten und auf dem Dorfplatz zusammenliefen.
Alasar stürmte in seine eigene Hütte. Tausendmal hatte er sich diesen Augenblick in den vergangenen zwölf Tagen ausgemalt und trotz seines wild pochenden Herzens empfand er eine kühle Gelassenheit. Die kleine Hütte war so dunkel, wie er sie noch vor Sonnenaufgang verlassen hatte. Glutstückchen funkelten unter dem Kessel auf der Feuerstelle.
»Alasar?«, erklang eine zarte Stimme.
Er lief an das Bett, das er im Dunkeln kaum sehen konnte, und fasste nach den Händen seiner kleinen Schwester. »Keine Angst, Magaura. Wir müssen jetzt weg, so wie ich es dir gesagt habe. Erinnerst du dich?«
Sie nickte langsam. »Alles hierlassen und schnell laufen, hast du gesagt.«
Alasar nickte ebenfalls. »Ja, ja genau das habe ich gesagt. Dir wird nichts geschehen. Bleib einfach bei mir.«
»Mach ich«, flüsterte Magaura.
»Komm.« Er hob sie aus dem Bett und zog ihr Strümpfe, Kleid und Umhang an, ohne sich die Furcht anmerken zu lassen, die ihn zu größerer Hast antreiben wollte. Dann legte er sich auf den Bauch und griff mit einer Hand unter das Bett, um ein Bündel herauszuziehen. Er hatte es heimlich gepackt, als alle Erwachsenen das Dorf verlassen hatten. Wasser, Dörrfleisch, Brot und ein langes Taschenmesser waren darin eingewickelt. Er klemmte sich das Bündel unter den Arm, mit der anderen Hand ergriff er seine kleine Schwester und sie verließen das Haus. Alasar blickte nicht zurück. Er wusste, dass sie die Hütte nie wieder betreten würden, in der sie beide geboren und aufgewachsen waren. Aber diese Gedanken erreichten nur seinen Kopf, nicht sein Herz.
Auf dem Dorfplatz war Panik ausgebrochen. Weinende Kinder drängten sich zusammen und klammerten sich an die hilflosen Alten. Ein paar Greise machten sich daran, das Dorftor zu schließen. Alasar ging festen Schrittes auf die Mitte des Platzes.
»Hört zu«, rief er. »Hört mich an und heult nicht rum!« Langsam verebbte das Schluchzen, und Alasar wandte sich an die Alten, die das Tor verriegelten.
»Lasst den Unsinn! Glaubt ihr denn, das Tor hält die Haradonen auf? Wir müssen das Dorf verlassen. Ich weiß, wo wir sicher sind.«
»Was redest du, Junge - sollen wir den Haradonen vielleicht in die Arme laufen? Wo sollten wir sicher sein, wenn nicht hier?«, riefen die anderen zurück, und Alasar wartete einen Augenblick wütend ab, während man ihn weiter beschimpfte. Dann entgegnete er so bestimmt, als hätte nie jemand sein Wort angezweifelt: »Wir verstecken uns in den Felshöhlen. Ich kenne alle Höhlen im Umkreis.
Packt Essensvorräte zusammen. Dann verlassen wir das Dorf und schließen die Tore. Wenn die Haradonen kommen, warten wir, bis sie ins Dorf einbrechen. Dann schleichen wir uns von außen an und setzen es in Brand.«
Aber noch während Alasar das sagte, wusste er, dass es nie so kommen würde. Die riesige Flut am Horizont würde das Dorf unter sich begraben und verschlingen, nicht einmal ein Bruchteil davon hätte ins Dorf gepasst.
»Wir sollen unser eigenes Dorf in Brand setzen?«, rief ein Greis, doch es klang schon viel zögerlicher.
»Der Junge hat recht«, stimmte ihm eine gebrechliche Alte zu und machte sich daran, das Tor wieder zu öffnen. »Lasst uns gehen und die Haradonen überraschen, hier drinnen sitzen wir in der Falle.«
Nun begannen einige, der Alten zu helfen und das Tor zu
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