Das Drachentor
dieser Uhrzeit auftauchte. Ardhes sah ihren Vater immer nur in den heimlichen Dämmerstunden, außer wenn es eine offizielle Zeremonie oder einen Empfang gab und die Anwesenheit des Königs vonnöten war, und das kam selten vor.
Ardhes betrat ein geräumiges Gemach. Obwohl das herbstliche Wetter in Awrahell warm und freundlich war, flackerte ein Feuer im Kamin und tauchte die Deckengewölbe in gespenstisches Rot. Das Himmelbett des Königs war leer. Die Decken waren unberührt, denn niemand hatte diese Nacht darin geschlafen, und auch in der vorigen Nacht nicht und in der Nacht davor - der König hatte sich nie an die Betten der Menschen gewöhnen können. Stattdessen lag er auf seinem Balkon, der sich dem Land entgegenstreckte wie die vorgeschobene Unterlippe eines Riesen. Ardhes lief hinaus. Auf dieser Seite des Schlosses sah man den nördlichen Horizont und am dunklen Firmament glommen noch die Sterne.
»Vater?« Ardhes trat vorsichtig um das weiße Fell herum, auf dem der König mit ausgebreiteten Armen lag. Er öffnete die Augen, und sein Blick fiel sofort auf seine Tochter, ohne sie erst suchen zu müssen. Es schien fast, als habe er auf sie gewartet.
»Gute Nacht und guten Morgen, kleine Ardhes- ayen.«
Ardhes blieb so vor ihm stehen, dass er sie gut sah und sie wiederum sein Lächeln betrachten konnte. »Du sollst mich nicht so nennen. Mutter will es nicht.«
Der König richtete sich auf. Sein weißes Haar goss sich über seine Schultern wie fließendes Silber, dabei war sein Gesicht jung - statt Falten umtanzten seine Augen lediglich zarte Linien. Für ein zehnjähriges Mädchen aber scheint jeder alt, der kein Kind mehr ist, und so dachte Ardhes nie darüber nach, wieso ihr Vater weißes Haar und ein junges Gesicht hatte. Außerdem kannte sie die Antwort auf seine Sonderbarkeiten sowieso schon.
»Ich darf dich nicht Ardhes- ayen nennen, meine Ardhes- ayen ? Wieso nicht?« Der König runzelte die blasse Stirn. Ardhes beobachtete seinen Gesichtsausdruck sehr genau, denn er konnte sich erstaunlich verändern und schien ihren Vater in ganz verschiedene Männer zu verwandeln.
»Das weißt du«, erwiderte Ardhes. »Es ist …«
»… elfisch?« Ihr Vater lächelte. Ardhes konnte nicht sagen, ob es ein trauriges oder amüsiertes Lächeln war. Vielleicht wusste der König es selbst nicht.
Ardhes nickte.
»Nun, du bist doch selbst eine halbe Portion Elfe, san alyúren, meine Tochter. Darf ich denn nicht, wenn du schon einen Menschennamen hast, wie deine Mutter es wollte, deinen Kosenamen auf Elfisch sagen?«
Ardhes kaute eine Weile auf ihrer Unterlippe und dachte darüber nach. Dann ließ sie sich auf die Knie sinken und rutschte neben ihren Vater. Er kreuzte die Beine, um ihr Platz zu machen.
»Ich bin gerade so aufgewacht, Vater«, erzählte Ardhes, »und habe mir gedacht, diese Nacht passiert etwas. Oder ist schon was passiert.«
Der König betrachtete sie mit seinem rätselhaften Lächeln. Schließlich streckte er die Hand aus und tippte mit dem Finger auf ihre Nasenspitze. »San alyúren, danuh a yor eliam mior nahéd tâloree elyén mior …«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Kannst du meine Sprache nicht mehr?« Die Stimme des Königs war so leise wie ein Atemzug.
»Nein.«
Der König seufzte. »Ich habe gesagt … dass so viel von mir in dir ist.«
Ardhes dachte daran, was ihre Mutter immer behauptete: dass sie überhaupt nichts mit ihrem Vater gemeinsam hätte. Und wirklich, das Gesicht, das Ardhes täglich in ihrem Spiegel sah, war dem des Königs überhaupt nicht ähnlich. Ihr Vater hatte helle Augen voller trauriger Lichter; Ardhes hatte dunkle, stille Augen, in die sich selten ein Ausdruck von Gefühl verirrte. Sie hatte blondes, farblos wirkendes Haar und eine kleine Nase, die gerade von der Stirn hinabführte. Ihr Mund war ebenfalls klein, die Lippen machten einen trotzigen Eindruck. Nein, sie sah wirklich ganz anders aus als der König, dessen Gesicht wie ein Muster von tanzenden, bewegten Sonnenstrahlen war. Selbst Ardhes’ Ohren waren vollkommen rund und zeigten keine Spur von der Gespitztheit der seinen …
»Du hast manche Dinge im Gespür, nicht wahr?«, bemerkte der König, obwohl er die Antwort natürlich kannte. »Siehst du, ein winziges bisschen hast du doch von mir und deinem Volk.«
Ardhes wollte sagen, dass er sich irrte, dass sein Volk nicht ihres war; doch sie verkniff sich die Bemerkung, die ihre Mutter so oft wiederholte, denn sie wollte hören, was der König ihr
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