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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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haradonische Heer anrückte. Es geschah alles genau so, wie er es vorausgesehen hatte. Die schwarze Woge aus klirrenden Waffen und brüllenden Männern verschlang sein Dorf.
    Für eine Weile herrschte ein grauenhaftes Gewühl, wo das Dorf lag. Schreie erklangen und Feuer breitete sich aus. Etwas Ähnliches hatte Alasar schon einmal gesehen. Damals, in einem vergangenen Sommer, als vor seinen Augen Tausende und Abertausende von
    Ameisen einen lebendigen Frosch bis auf die Knochen abgenagt hatten.
    Dann wurde es still. Die trommelnden Schritte des Heeres ordneten sich wieder. Der flimmernde Schwarm war satt und zog weiter. Im Dorf flackerten die letzten Feuer im kalten Wind der Dämmerung und ihr Anblick und die immer leiser, immer dünner werdenden Schreie gruben sich in Alasars Gedächtnis. Unfähig aufzustehen, lag er da und beobachtete das Sterben seines Dorfes.

Tochter des Friedens
    Ardhes wachte auf, als es Morgen wurde. Wie so oft, wenn sie im Dunkeln aus einem Traum schrak, setzte sie sich mit Furcht im Bett auf und starrte eine Weile durch ihr Zimmer, bis ihre Augen sich an das unruhige Licht der Fackeln gewöhnt hatten und sie sich sicher war, dass kein Ungeheuer in den schattigen Ecken lauerte. Auf einer Matte neben ihrem Himmelbett schlief Candula, ihre Amme, mit offenem Mund und schnarchte. Obwohl sie dick und rund war, hatte sie sich auf ihrer Matte klein gemacht, ja geradezu eingerollt; in den vielen Jahren als Dienerin hatte sie gelernt, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, selbst wenn sie schlief. Nur das Schnarchen konnte sie nicht verhindern, denn sie wusste nicht, dass sie es tat, und Ardhes brachte es nie über das Herz, ihrer Amme davon zu erzählen. Wenn sie es täte, würde Candula beim Einschlafen wahrscheinlich die Luft anhalten und versuchen, nicht mehr zu atmen.
    Ardhes störte es aber nicht, dass Candula Nacht für Nacht so geräuschvoll mit der Luft in ihrem Hals kämpfte, im Gegenteil; die Geräusche versicherten ihr, dass sie nicht alleine war, und das war wichtig. Zu groß war das Schloss ihrer Eltern und zu oft fühlte man sich in den steinernen Hallen und Fluren verlassen.
    Eine Weile saß Ardhes reglos in ihrem Bett und beobachtete die weißen Leinenvorhänge vor ihrem Balkon, die sich leicht im Wind wiegten. Alles schien vollkommen friedlich … Ardhes grub die Zehen in die weichen Bettlaken. Sie wusste, dass dieser Frieden trügerisch war. Seit Wochen herrschte im ganzen Schloss Anspannung. Die Dienerschaft schien stiller als früher, die Soldaten machten keine derben Scherze mehr und Ardhes’ Mutter - ihre Mutter war die Merkwürdigste von allen. Natürlich wusste Ardhes auch, wieso: Es herrschte Krieg zwischen Haradon und Myrdhan, und ihre Mutter, die die Cousine des haradonischen Königs war, fand vor Sorge und einem gewissen Ehrgeiz kaum Schlaf. Wenn Haradon siegte, dann würde auch Awrahell profitieren - und wenn Haradon fiel, war Awrahell der Gnade der myrdhanischen Barbaren überlassen.
    Nach kurzem Zögern beschloss Ardhes aufzustehen. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und zog sich umständlich ihr Kleid über das Nachthemd, ohne es richtig zu schließen, denn normalerweise kleidete Candula sie an. Dann schlich sie an ihrer schlafenden Amme vorbei und hinaus auf den Balkon.
    Von hier oben aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf das Land. Bis zum Horizont, wo sich der Himmel bereits metallblau zu färben begann, erstreckten sich die felsigen Hügel und Schluchten von Awrahell. Es war eine kahle Landschaft, kaum Grün schmückte die Umgebung, und doch war Awrahell in den Augen seiner jungen Prinzessin schön und prächtig - ein Land, das aussah wie ein zu Stein gewordener Ozean im Sturm, mit tiefen Hängen und riesigen Wellenbergen … Und zugleich ein Land, das sich wie zartes, gefaltetes Papier über das Gesicht der Erde zog.
    Ardhes raffte Kleid und Nachthemd zusammen und lief eine Treppe hinab. Die Stufen umschmiegten die Außenwand des großen Turms, in dem ihr Gemach lag, und führten zu einem Eingang an der östlichen Wehrmauer. Wachen standen vor dem Eingang und folgten Ardhes mit verwunderten Blicken, als sie so ungeschickt gekleidet durch das Dämmerlicht eilte.
    Die Halle, in die Ardhes kam, war Treffpunkt vieler verzweigter Gänge und Treppen. Zielsicher nahm sie einen der langen Gänge, bis sie eine Treppe hinunterstieg und eine große, runde Doppeltür vor ihr erschien. Zwei Wachen öffneten ihr. Es erstaunte sie nicht, dass die Prinzessin zu

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