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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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bin, die seine Mutter am meisten haßt.
    Der Turmfalke schwebte hoch oben und schlug mit den Flügeln gegen den Wind. Grau: ein Männchen. Isabelle kniff die Augen zusammen. Nein. Rotbraun, die Farbe ihres Haares: ein Weibchen.
    Ganz allein hatte sie gelernt, auf dem Wasser zu ruhen, auf dem Rücken liegend, die Arme seitlich ausgestreckt, die Brüste flach, ihr Haar wie Blätter im Fluß um ihr Gesicht treibend. Sie blickte noch einmal nach oben. Der Falke stieß rechts von ihr herab. Der Aufprall wurde durch ein Büschel Ginster gedämpft. Als der Vogel wieder auftauchte, trug er ein winziges Tier, eine Maus oder einen Spatz. Er stieg schnell hoch und außer Sichtweite.
    Sie schreckte hoch und kauerte sich auf dem langen, glatten Felsen im Flußbett zusammen, wo ihre Brüste ihre Rundung wiedergewannen. Die Töne kamen aus dem Nichts, ein leises Bimmeln hier und dort, das plötzlich zu einem Chor von Hunderten von Glocken anschwoll. Die estiver – Isabelles Vater hatte vorausgesagt, daß sie innerhalb von zwei Tagen kommen würden. Ihre Hunde mußten diesen Sommer gut sein. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie in kürzester Zeit von Hunderten von Schafen umringt sein. Sie stand schnell auf und ging vorsichtig ans Ufer, wo sie sich das Wasser mit der Handfläche von der Haut wischte und den Fluß aus dem Haar wrang. Ihr sündiges Haar. Sie warf ihr Kleid und ihre Arbeitsschürze über und wand das Haar in ein langes leinenes Tuch, so daß nichts mehr davon zu sehen war.
    Gerade steckte sie das Ende des Leinentuchs fest, als sie erstarrte, weil sie einen Blick auf sich fühlte. Mit den Augen suchte sie das umliegende Gelände ab, soweit es eben ging, ohne den Kopf zu wenden, konnte aber nichts erkennen. Die Glocken waren noch weit weg. Sie tastete mit den Fingern nach losen Haarsträhnen und stopfte sie unters Tuch, dann raffte sie ihren Rock und lief den Pfad neben dem Fluß entlang. Bald bog sie ab und überquerte ein Feld voller Heidekraut und Ginster.
    Sie erreichte die Spitze eines Hügels und schaute hinunter. Weit unten sah sie ein Feld voller Schafe, die sich auf den Berg zubewegten. Zwei Männer, einer vorne und einer hinten, und ein Hund auf jeder Seite hielten die Herde zusammen. Ab und zu rissen ein paar Streuner zur Seite aus, wurden aber schnell wieder zur Herde zurückgetrieben. Sie waren jetzt wohl schon fünf Tage lang unterwegs gewesen, den ganzen Weg von Alès her; trotzdem zeigten sie an diesem letzten Gipfel keinerlei Anzeichen der Erschöpfung. Sie würden den ganzen Sommer zur Erholung haben.
    Durch die Glocken vernahm sie die Pfiffe und Rufe der Männer und das scharfe Gebell der Hunde. Der vorangehende Mann sah herauf, es schien, als sähe er sie direkt an, und stieß einen schrillen Pfiff aus. Genau im gleichen Augenblick kam ein junger Mann hinter einem Felsen hervor, gerade einen Steinwurf zu ihrer Rechten. Isabelle umklammerte ihren Nacken. Der Mann war klein und drahtig, verschwitzt und sonnenverbrannt. Er hatte einen Wanderstab und den Ledersack der Schäfer bei sich und trug eine enganliegende runde Mütze, unter der schwarze Locken hervorschauten. Als sie seine dunklen Augen auf sich ruhen fühlte, wußte sie, daß er sie im Fluß gesehen hatte. Er lächelte sie an, freundlich, wissend, und einen kurzen Augenblick lang fühlte Isabelle die Berührung des Flusses auf ihrem Körper. Sie sah zu Boden, preßte die Ellbogen gegen ihre Brüste und konnte nicht zurücklächeln.
    Mit einem Satz machte der Mann sich auf den Weg nach unten. Isabelle beobachtete ihn, bis er die Herde erreichte. Dann floh sie.
    – Da ist ein Kind. Isabelle legte eine Hand auf ihren Bauch und sah Etienne trotzig an.
    Sofort verdunkelten sich seine blassen Augen, wie wenn der Schatten einer Wolke ein Feld überquert. Er blickte auf ihre Hand und rechnete.
    – Ich sage es meinem Vater, dann müssen wir es deinen Eltern sagen. Sie schluckte. Was werden sie sagen?
    – Jetzt werden sie uns die Heirat erlauben. Es würde schlecht aussehen, nein zu sagen, wenn ein Kind da ist.
    – Sie werden denken, daß ich es absichtlich getan habe.
    – Hast du das? Sein Blick traf ihren. Seine Augen waren jetzt kalt.
    – Du warst derjenige, der die Sünde wollte, Etienne.
    – Ah, aber du wolltest es auch, La Rousse.
    – Ich wünschte, Maman wäre hier, sagte sie leise. Ich wünschte, Marie wäre hier.
    Ihr Vater tat, als hätte er sie nicht gehört. Er saß auf der Bank neben der Tür und schnitzte mit dem Messer an einem

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