Das dunkle Erbe
Identität zu verschleiern. Er wirkte wie ein Kind, das in den falschen Bus gestiegen war und daran zu zweifeln begann, ob es je wieder den Nachhauseweg finden würde.
In seinem hellblauen Polohemd, einer ausgewaschenen Jeans und Retro-Turnschuhen sah dieser jungenhafte Mann sogar sympathisch aus. Er war ein bisschen kleiner als Raupach, in den Schultern breiter, aber schlank und beweglich in den Hüften. Sein Gesicht war länglich, sein Blick stets ein wenig fragend.
Schwan war Allgemeinarzt und besaß eine Praxis in einer kleinen Villa in Marienburg. Das war Oberklasse, altes Geld, Privatpatienten.
Allem Anschein nach hatte er zwei Menschen auf dem Gewissen. Wahrscheinlich sogar drei, wenn sich Raupachs Annahmen bestätigten: Schwans Ehefrau Sophie, seine Geliebte Gesa Simon sowie seine Praxispartnerin Dr. Eva von Barth.
Raupach reichte ihm einen Becher Kaffee.
Schwan war erleichtert. Der gleiche Kommissar wie in St. Raphael. Raupach hatte sich geräuspert, als er die Kapelle betreten und hinter Schwan stehen geblieben war. Mit Rücksicht auf den geweihten Ort hatte er Schwan flüsternd festgenommen.
Der Kaffee war weder zu stark noch zu schwach, mit einem Spritzer Milch. »Wo ist die Kommissarin, die meine erste Aussage aufgenommen hat? Sind Sie jetzt für mich zuständig?«
»Frau Thum untersucht den Tod von Gesa Simon. Sie wird uns zu gegebener Zeit Gesellschaft leisten.« Raupach ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und sah Schwan aus unergründlichen Augen an.
Der Raum schien schlagartig kleiner zu werden. Schwan bemerkte die Kameras unter der Decke, er hatte einer Videovernehmung zugestimmt. Er fühlte sich wieder schuldig.
»Womit fangen wir an?« Raupach schlug den Aktenordner auf. Zuoberst befand sich ein Skript, das er zur Vorbereitung des Gesprächs angefertigt hatte.
»Mit dem Mord an Eva von Barth?«, fragte Schwan.
»Mord?«
»Oder etwa nicht?«
»Wie kommen Sie darauf, dass Ihre Praxispartnerin umgebracht wurde?«
»Sie ist jetzt seit drei Tagen verschwunden. So lange würde sie nie wegbleiben, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Unsere Chefarzthelferin, Frau Rosinsky, musste alle ihre Termine absagen.«
»Eva von Barth kann auch geflohen sein. Um sich der Festnahme zu entziehen.«
»Das hieße ja, dass Eva …« Schwan schüttelte energisch den Kopf. »Ausgeschlossen.«
»Ich gehe nur alle Möglichkeiten durch.«
»Völlig abwegig.«
»Standen Sie in engem Kontakt?«
»Nur beruflich.« Schwan richtete den Blick an die Decke. »Gott möge ihrer Seele gnädig sein.«
Raupach machte sich eine Notiz. Heide war Schwans Religiosität schon am Anfang der Ermittlung aufgefallen. Als Sophie Schwan mit durchgeschnittener Kehle gefunden worden war, hatte er sich bekreuzigt und für seine verstorbene Frau ein Gebet gemurmelt.
Diese Vernehmung war so etwas wie ein Neuanfang. Raupach wollte das Gespräch offen gestalten, um möglichst viele Informationen zu bekommen. Schwan hatte zu den beiden gesicherten Todesfällen bereits vor drei Tagen ausgesagt. Damals war er nicht festgenommen worden, weil es zu wenig Indizien gegeben und keine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bestanden hatte. Beides hatte sich geändert. Außerdem wurde ein drittes Kapitalverbrechen immer wahrscheinlicher. Nur die Leiche fehlte noch.
Bislang war Heide Thum mit der Sache befasst gewesen. Heide war eine hervorragende Ermittlerin. Das lag vor allem daran, dass sie ihre Stärken und Schwächen richtig einzuschätzen wusste. Sie hatte zweierlei bemerkt: Nach Lage der Dinge kamen sie nur durch eine ausführliche Vernehmung Bernhard Schwans weiter, und darin war sie nicht gerade Expertin. Darüber hinaus hatte sie das Gefühl, dass diese Geschichte einen doppelten Boden besaß, wie sie sagte. Heide konnte es nicht besser ausdrücken, aber solche Gefühle trogen sie so gut wie nie.
Deshalb hatte sie Raupach um Hilfe gebeten. Obwohl er wegen einer privaten Angelegenheit quasi im Urlaub war und nur in wirklich dringenden Fällen gestört werden wollte. Beide waren lang genug Polizisten, um die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Mit der Festnahme in St. Raphael war er in den Fall eingestiegen.
»Was haben Sie in der Autobahnkapelle getan?«, fuhr Raupach nach einer längeren Pause fort. Schwan sollte genug Zeit haben, seine Erinnerungen abzurufen. Dies war kein Verhör, bei dem der Täter von vornherein feststand. Er behandelte Schwan nicht als Hauptverdächtigen, sondern als Zeugen.
»Ich habe an Eva gedacht. An
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