Das dunkle Fenster (German Edition)
Gleichzeitig fasste sie nach der Klinke und drückte sie herunter. Die Tür schwang in eine schattige Diele.
„Was tun Sie hier?“, fragte jemand in ihrem Rücken.
Azizah fuhr herum. Ein Mann war zwischen den Büschen aufgetaucht. Er war nicht sehr alt, und er sah auch nicht aus wie ein Einheimischer. Sie schluckte ihre Überraschung hinunter und riss sich zusammen.
„Guten Tag“, sagte sie höflich. „Ich wohne unten im Dorf. Sind Sie Nicolá Martin?“
Nikolaj musterte die junge Frau, die in seiner Haustür stand. Bemerkt hatte er sie bereits vor zehn Minuten, als sie das letzte Stück des Aufstiegs in Angriff genommen hatte. Das war der Vorteil dieses Anwesens – einer der Vorteile. Es gab nur einen Zugang und der war von oben gut einsehbar, während man von unten kommend das Haus erst sehen konnte, wenn man praktisch davor stand. Sie war attraktiv, hatte aber keine Ähnlichkeit mit den Frauen aus der hiesigen Gegend.
„Ich habe Sie noch nie im Dorf gesehen“, sagte er statt einer Begrüßung.
„Das liegt daran, dass ich seit vier Jahren nicht mehr zu Hause lebe“, gab sie zurück. Ihr Lächeln wirkte einigermaßen echt, aber vielleicht war sie einfach eine gute Schauspielerin. „Ich bin zu Besuch bei meinen Eltern.“ Sie sah ihm gerade ins Gesicht, das war ungewöhnlich und steigerte sein Misstrauen. „Mein Name ist Azizah Abourjeili.“
Nikolaj antwortete nicht. Unschlüssig betrachtete er ihre Kleidung, Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Sie sah wie eine Studentin aus.
„Ich wollte mich nur vorstellen, schließlich sind wir so etwas wie Nachbarn. Ich habe ein Gastgeschenk mitgebracht. Obst aus unserem Garten.“ Sie lachte verlegen und machte eine Geste zu den Apfelbäumen. „Aber Sie haben ja selbst eine Menge davon.“
Nikolaj zögerte noch immer. Er war nicht sicher, wie er reagieren sollte. Falls sie wirklich die war, für die sie sich ausgab, würde es Verwunderung erregen, wenn er sie wieder fortschickte, ohne sich wenigstens zu bedanken und sie zu einem Tee einzuladen. Die Leute hier nahmen das Gebot der Gastfreundschaft ernst. Sie respektierten es, dass er ein zurückgezogenes Leben führte. Dennoch würden sie sich fragen, warum er das Gastrecht so grob verletzte.
„Nicolá Martin“, sagte er endlich und streckte die Hand aus. „Freut mich, Sie kennen zu lernen.“
Auf der anderen Seite des Hauses lag eine Terrasse, etwas erhöht und von Akazien beschattet. Schiebetüren führten von der Küche nach draußen. Azizah wischte eine Handvoll abgefallener Blütenblätter vom Tisch und beobachtete die Spatzen zwischen den Ästen.
Aus der Küche drang das Klirren von Geschirr. Dann tauchte Nicolá in der Tür auf. Er trug ein Tablett mit einer Silberkanne, zwei dickwandigen Gläsern und einer Schale voller Datteln. Sorgfältig stellte er alles auf dem Tisch ab, dann schenkte er Tee ein. Azizah griff nach ihrem Glas. Zimtduft stieg ihr in die Nase. „Sie haben es schön hier“, sagte sie.
„Ja“, murmelte Nicolá, „ich schätze die Ruhe hier oben.“
„Ich kenne das Anwesen von früher. Als Kinder haben wir manchmal hier gespielt. Damals war es ziemlich verwildert.“
Der Mann nickte.
„Seit wann wohnen Sie in dem Haus?“, fragte Azizah.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ihr Blick blieb an seiner Hand hängen. Ein merkwürdiges Muster bedeckte den Handrücken, eine Art Narbengeflecht wie von einem schweren Unfall. Schnell sah sie weg.
Nicolá schien es gar nicht bemerkt zu haben. „Ich habe das Grundstück vor ein paar Jahren gekauft. Ich musste viel reparieren.“ Er nahm noch einen Schluck von seinem Tee. „Es ist sehr alt. Das Badezimmer wurde vor fast zweihundert Jahren gebaut. Beim Umbau habe ich ein Mosaik entdeckt, das der Vorbesitzer einfach zugemauert hatte.“
Azizah lachte leise. „Hier leben einfache Bauern. Sie züchten Schafe und kümmern sich nicht um alte Mosaiken.“
„Selman Abourjeili ist Ihr Vater?“
Azizah nickte. „Kennen Sie ihn?“
„Er arbeitet als Bauingenieur, nicht wahr?“
„In Beirut“, bestätigte Azizah.
„Und Sie?“
„Ich?“ Azizah streifte ihr Haar zurück. „Ich studiere Kunstgeschichte in Mailand. Ich bin nur ein oder zwei Mal im Jahr bei meinen Eltern. Ich habe Ihre Bilder gesehen. Im Kloster.“
„Oh – ja“, murmelte Nicolá.
„Sie sind großartig.“
„Finden Sie?“ Er machte eine vage Handbewegung. „Ein oder zwei davon sind vielleicht ganz schön geworden. Die Mönche mögen sie, deshalb
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