Das Dunkle Muster
zu einer bewegungslosen Statue zu werden, wenn sie über sich und die Welt, in der sie lebte, nachdachte, bemerkt? Wenn ja, war er bereits jetzt zu dem Schluß gekommen, sie sei zu träumerisch veranlagt und deswegen nicht geeignet, eine Vertrauensposition einzunehmen?
Der Gedanke versetzte sie in sanfte Panik. O Gott, er konnte sie einfach nicht deswegen ablehnen, nur weil sie hin und wieder in Gedanken versunken war! Natürlich würde sie niemals träumen, solange sie im Dienst war! Niemals. Aber wie sollte sie das Firebrass klarmachen?
Sie mußte sich benehmen, als sei sie ständig auf irgendeine Überraschung gefaßt. Extrovertiert, auf alles vorbereitet, vertrauenswürdig. Wie eine Pfadfinderin.
Sie gesellte sich zu einer Gruppe, in deren Mitte Bischof Samuelo stand.
Der kleine, dunkelhäutige Mann erzählte gerade Geschichten über La Viro. Jill hatte bereits einige davon gehört, da sie mehr als eine Versammlung der Chancisten miterlebt und mit ihren Missionaren gesprochen hatte. In der offiziellen Sprache der Chancisten, dem Esperanto, bedeutete >La Viro< Der Mensch. Man bezeichnete diesen Mann aber auch als >La Fonditex<, den Gründer. Allem Anschein nach kannte niemand seinen irdischen Namen, und den Chancisten schien das auch gar nicht wichtig zu sein.
Samuelos Geschichte drehte sich um den Fremden, der La Viro in einer stürmischen Nacht, als er sich in einer Höhle in den Bergen aufgehalten hatte, begegnet war. Der Fremde hatte ihm offenbart, daß er derjenige sei, der diesen Planeten erschaffen habe und für das Weiterleben der Menschheit im Tal dieses verschlungenen, sich über die ganze Welt erstreckenden Flusses verantwortlich sei.
Weiterhin hatte er La Viro angewiesen, die Kirche der Zweiten Chance zu gründen, ihm einige Glaubensthesen gegeben und ihm versprochen, daß ihm, nachdem es ihm gelungen sei, die Botschaft im Tal zu verbreiten, weitere Offenbarungen zuteil werden sollten. Soweit Jill allerdings wußte, hatte der Fremde sich nie wieder blicken lassen.
Trotzdem hatte sich die Kirche überall ausgebreitet. Ihre Missionare wanderten zu Fuß oder bewegten sich mit Booten flußauf, flußab. Manche, behaupteten einige, reisten sogar mit Ballons. Die schnellste Art der Fortbewegung allerdings war bisher die des Todes und der Wiedererweckung gewesen.
Tatsächlich taten jene, die die Prediger der Kirche umbrachten, ihr einen großen Gefallen: Der Tod eines jeden Missionars bedeutete nichts anderes, als daß die Botschaft der Kirche sich nur noch schneller ausbreitete.
Das Märtyrertum ist zwar eine bequeme Art der Reise, dachte Jill, aber es erforderte eine ziemlich große Courage, für eine Religion zu sterben, wenn jeder Tod der letzte sein konnte. Sie hatte gehört, daß in letzter Zeit viele Leute von der Kirche abgefallen waren. Ob das daran lag, daß der Tod von nun an permanent war oder weil die Bewegung allmählich an Kraft verlor, war ihr unbekannt.
Ein Mann aus der Gruppe war ihr nicht vorgestellt worden. Allerdings hatte Piscator kurz auf ihn gedeutet und gesagt: »John de Greystock. Er lebte während der Herrschaft Edwards I. in England. Dreizehntes Jahrhundert, glaube ich. Ich scheine ziemlich viel aus der englischen Geschichte vergessen zu haben, obwohl ich sie ziemlich intensiv studierte, als ich noch Marinekadett war.«
»Edward herrschte von 1270 bis 1300, glaube ich«, sagte Jill. »Ich weiß noch, daß er etwa fünfunddreißig Jahre lang an der Macht war und mit achtundsechzig starb. Ich erinnere mich deswegen so genau daran, weil es in damaligen Zeiten ungeheuerlich war, wenn jemand ein solches Alter erreichte, speziell in England. Wegen der zugigen und feuchten Schlösser, wissen Sie?«
»Edward machte ihn zum Baron und nahm ihn auf seine Expeditionen nach Schottland und in die Gascogne mit«, sagte Piscator. »Aber mehr weiß ich wirklich nicht über ihn. Ausgenommen vielleicht, daß er Gouverneur der La Civito de La Animoj – auf englisch: der Seelenstadt, einem kleinen Land, das etwa vierzig Kilometer flußabwärts liegt – war. Er ist schon länger hier als ich und kam hier an, kurz nachdem König John Sam Clemens das Schiff stahl. Er trat in die Armee Parolandos ein, machte schnell Karriere und zeichnete sich besonders während der Invasion der Seelenstadt aus…«
»Warum hat Parolando die Seelenstadt überhaupt unterworfen?« fragte Jill.
»Die dort lebenden Leute hatten kurz zuvor einen heimtückischen Angriff auf Parolando unternommen. Sie wollten
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