Das Dunkle Muster
Taoismus –, hatten sich selbst diskreditiert. Den anderen – dem Judentum, dem Islam und dem Christentum – war es allerdings nicht anders ergangen. Aber wie auf der Erde war auch auf dieser Welt der Zusammenbruch einer Religionsgemeinschaft identisch mit der Geburtsstunde einer neuen. Obwohl es natürlich immer noch genügend Minderheiten gab, die sich mit konsequenter Sturheit an ihren alten Glauben klammerten, sich nicht von ihm abbringen ließen und Stein und Bein schworen, er sei noch lange nicht bankrott.
Jill, die in der Nähe Samuelos, des Ex-Rabbis und gegenwärtigen Bischofs der Kirche der Zweiten Chance, stand, fragte sich, wie dessen Reaktionen im ersten Jahr dieser Welt ausgesehen haben mochten: Weder war ihm der Messias erschienen, um sein auserwähltes Volk zu retten, noch versammelten sich die Auserwählten im irdischen Jerusalem. Kein Jerusalem, keine Erde.
Aber offensichtlich hatte der Zusammenbruch seiner Kirche seinem Wohlbefinden keinen Abbruch getan. Irgendwie mußte er die Tatsache, sich geirrt zu haben, ohne besondere Schwierigkeiten akzeptieren. Für einen superorthodoxen Rabbi dieses Zeitalters setzte das einen äußerst flexiblen Geist voraus.
In diesem Moment bot Jeanne Jugan, die den Part der Gastgeberin spielte, sowohl Samuelo als auch seiner Frau einen Teller mit Bambusspitzen und Fischfilet an. Samuelo warf einen Blick auf den Fisch und fragte dann: »Was ist das?«
»Krötenfisch«, sagte Jeanne.
Samuelo preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Jeanne sah ihn verwirrt an, da der Bischof ganz offensichtlich hungrig war und er das Mahl beinahe schon mit den Fingerspitzen berührt hatte. Die Bambussprossen gehörten, wie Jill sich zu erinnern glaubte, laut dem mosaischen Gesetz nicht zu den verbotenen Speisen. Aber sie lagen zusammen mit dem schuppenlosen Fisch auf dem gleichen Teller und wurden dadurch verunreinigt.
Sie lächelte. Es war offensichtlich leichter, die Ansichten eines Menschen zu ändern, als seine Eßgewohnheiten. Ein gläubiger Moslem oder Jude konnte zwar seine Meinung über die Religion ändern, würde aber immer noch zurückzucken, wenn man ihm Schweinefleisch anbot. Jill hatte einst einen Hindu, der inzwischen Atheist geworden war, kennen gelernt, der immer noch kein Fleisch hinunterbekam. Und sie selbst war – ungeachtet ihrer Abstammung – nicht in der Lage, einen Wurm zu verspeisen, obwohl sie es versucht hatte. Natürlich hatte die genetische Abstammung nichts mit der Art der Ernährung zu tun; es war reine Erziehungssache, welche Nahrung man bevorzugte, wenn auch nicht immer. Es gab genügend Leute, die sich leicht umstellen konnten. Und außerdem gab es noch den individuellen Geschmack. Jill hatte im gleichen Moment, in dem sie das Haus ihrer Eltern verlassen hatte, damit aufgehört, Hammelfleisch zu essen. Sie konnte es einfach nicht ausstehen. Und außerdem zog sie einen Hamburger jedem Beefsteak vor.
Und schuld daran, dachte sie, als sie aus ihrer tiefen Versunkenheit auftauchte und die Gedanken abschüttelte wie ein Taucher die Wassertropfen, schuld daran ist ganz einfach die Tatsache, daß wir das sind, was wir essen. Und wir essen, was wir mögen, deswegen, weil wir es sind. Und was wir sind, liegt teilweise an unserer Umgebung und teilweise an unserem genetischen Make-up. In unserer Familie mochte jeder außer mir Hammelfleisch. Nur eine meiner Schwestern teilte meine Liebe zu Hamburgern und meine Abneigung gegenüber Beefsteaks.
Alle meine Brüder und Schwestern waren – soweit ich weiß – heterosexuell. Ich bin als einzige bisexuell, und das möchte ich nicht. Ich möchte entweder das eine oder das andere sein und kein Fähnchen im Wind, das einmal nach dieser und dann wieder nach jener Seite hin ausschlägt. Und doch bin ich es selbst, die dafür sorgt, daß mein Wetterhahn mal in diese oder jene Richtung zeigt.
Sie wollte wirklich nicht beides zugleich sein. Und wenn sie sich hätte entscheiden müssen – und warum sollte sie es eigentlich nicht? –, würde sie es bevorzugen, Frauen zu lieben.
Frauen lieben. Warum gestand sie sich nicht ein, daß sie eine Lesbierin war? – Das ist es, sagte sie sich. Lesbisch. Sie schämte sich dessen nicht. Und was war mit Jack? Sie hatte ihn auch geliebt. Und was mit…?
‘Sie war aus ihrem Traum aufgewacht, bloß um in einem neuen zu versinken.
Vom anderen Ende des Raumes warf Firebrass, der sich mit einigen anderen unterhielt, ihr einen Blick zu. Hatte er ihre Eigenart,
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