Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
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Paralleltourismus
Die Zeit hat mir die Brille in den Koffer gelegt.
Holger Hiller
Weil ich noch nie richtig gearbeitet habe, bis auf nicht erwähnenswerte fünfzehn Bundeswehrmonate und ein Jahr Zeitvernichtung bei einer wohltuend uninnovativen Werbeagentur (Ogilvy & Mather), hatte ich auch noch nie in meinem Leben Urlaub, also Urlaub im Sinne von bezahltem Wegfahren zu Regenerationszwecken. In den Schulferien arbeitete ich bei der Stachelbeerernte, um Geld zu haben, und davor, als ich noch zu dumm zum Arbeiten war, schleppten mich meine Eltern, die an und für sich ausgewiesene Kommunistenhasser waren, regelmäßig in die DDR, weil da alle Angehörigen lebten, die zu lahm oder zu doof gewesen waren, vor dem August 1961 das System zu wechseln. Prerow, heiße Kiefernwälder, weißer Strand, grünes Wasser, einmal musste mir ein Backenzahn gezogen werden, das ist alles, was an Erinnerung geblieben ist. Leider, denn ich würde gerne den Backenzahn gegen das Bild eines dauerhaft schlechtgelaunten und fluchenden Vaters tauschen.
Der Familienspuk endete, als ich sechzehn Jahre alt wurde. Ich flog von der Schule, zog aus, in eine ranzige Wohngemeinschaft in einen alten Wasserturm in Lüneburg, und jobbte da und dort (Lünebest Spezialjoghurt), naturgemäß ohne Festanstellung, weswegen es auch keinen Urlaub gab. Wenn ich wegfuhr, nannte ich das Wegfahren oder vom Acker machen, in den neunzehnhundertsiebziger Jahren war ja alles Mobile landwirtschaftlich konnotiert – pflanz dich, verdufte, mach dich vom Acker, schwing die Hufe, lass rüberwachsen, ruf in einen Kartoffelsack und warte auf das Echo (bedeute: mit deiner Meinung stehst du hier alleine) –, vielleicht ein später Nachhall des ein paar Jahre vorher für das in Trümmern liegende Deutschland angedachten Morgenthau-Plans, dem man so knapp entronnen war.
Wenn ich also wegfuhr, dann sicher nicht, um an irgendeinem Ziel zu entspannen oder etwas zu lernen, das Wegfahren war vielmehr zur Arbeit geworden; schon allein das zähe, tagelange, bange und demütigende Autostoppen. Angekommen bin ich auch nie, musste immer weiter, durch ganz Europa, und über die Grenzen hinaus, bis nach Alma-Ata, und dann gleich wieder zurück, einen Kanister mit 15 Litern Kumys im Gepäck, also vergorener Stutenmilch, damit wollte ich in meiner unendlichen Naivität einen schwunghaften Handel aufziehen. Das musste natürlich allein schon daran scheitern, dass ich mich auf dem langen Rückweg an der nahrhaften Milch labte bei gleichzeitiger Gewichtsminimierung.
So wie der Stubenkamerad während der Bundeswehrzeit in Westerland auf Sylt, ein Zuhälter aus Hannover («Ich hab nur ein Pferdchen laufen»), der immer vom Lindener Bier schwärmte, das das beste sei, was man trinken könne, und versprach, das nächste Mal eine Flasche mitzubringen, damit ich mal koste, was mir, der ich nie übers Wochenende heimfuhr, entgehe, und jeden Sonntag kam er mit leeren Händen zurück, er hatte die Flasche auf der beschwerlichen Zugfahrt ausgetrunken. (Als ich dann viel später einmal in Hannover war, bekam ich schon beim Anflug einen enormen Lindenerdurst, aber, welche Enttäuschung, die Brauerei existiert seit 1997 nicht mehr. Mit Hannover assoziiere ich seither nur noch eine pauschale Komplettdrainage.)
Nach der Stutenmilchaktion kam ich auf die Idee, von nun an immer etwas zu machen , Reisen mit Auftrag, damit das mühselige Unterwegssein wenigstens mit etwas Sinn befüllt wird und ich den Ländern, Gegenden und Völkern irgendetwas zurückgeben kann, Geld bekommen ja immer nur die Falschen und hatte ich sowieso nicht. Und wenn mir schon nicht unbedingt die große Vision des Entrepreneurs zur Verfügung stand, so konnte man aus den Vorhaben immer noch eine Kunstaktion generieren, Kunst geht immer, wie Martin Kippenberger sagte, der ein globales U-BahnNetz baute, bestehend nur aus Attrappen von Eingängen und Lüftungsschächten, bei denen regelmäßig abgespielte Fahrgeräusche und durch Ventilatoren erzeugte Luftströme die Fiktion verstärkten (Stationen etwa auf der Kykladeninsel Syros, in Dawson City in Kanadas Yukon-Territorium und in Münster, Westfalen). Aber es gibt ja auch weniger aufwendige Fluxusaktionen, kleine Eingriffe oder Hinterlassenschaften, die man irgendwo deponiert, wie James Lee Byars, der mit Gehrock, goldenem Zylinder und Gamaschen das Matterhorn erklomm, um dort nichts anderes zu hinterlassen als einen Tropfen Parfüm – an Pathos zwar schwer
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