Das Echo der Traeume
stillschweigend übereingekommen, das neue Jahr gemeinsam zu begehen. Auf der Terrasse trafen wir uns mit einigen Freunden, seinem Sohn und meinen Kundinnen, die das Ganze eingefädelt hatten. Er stellte mich Carlos vor, meinem Halbbruder, der meinem Vater unglaublich ähnlich sah und mir überhaupt nicht. Wie hätte der junge Mann ahnen sollen, dass die ausländische Schneiderin vor ihm seine eigene Schwester war, die sein Bruder bezichtigt hatte, ihnen beiden einen ordentlichen Batzen ihres Erbes gestohlen zu haben?
Niemanden schien die große Kälte etwas auszumachen. Die Zahl der Gäste wuchs immer weiter an, und die Kellner hatten alle Hände voll zu tun, die bestellten und in weiße Servietten gehüllten Champagnerflaschen zu verteilen. Die Stimmung war gelöst, überall hörte man Gelächter und das Klingen der Gläser, das den nachtschwarzen Winterhimmel mit seinem Klang erfüllte. Von der Straße, vom Pflaster, drang ein heiseres Gebrüll herauf, der Lärm der Stimmen der weniger Begünstigten, die ihr Pech mit einem Liter billigen Fusels oder einer Flasche Anisschnaps begossen, der ordentlich in der Kehle brannte.
Wir hörten die ersten Schläge der Glocken, zunächst die für jede Viertelstunde, darauf die für die volle Stunde. Ich konzentrierte mich auf den Silvesterbrauch, zu jedem Glockenschlag eine Traube zu essen: dong, eine, dong, zwei, dong, drei, dong, vier. Bei der fünften merkte ich, dass Gonzalo mir den Arm um die Schultern gelegt hatte und mich an sich zog. Beim sechsten Schlag füllten sich meine Augen mit Tränen. Beim siebten, achten, neunten Schlag schluckte ich die Trauben blind hinunter und unterdrückte ein Schluchzen, was mir beim zehnten gelang, beim elften hatte ich mich wieder gefangen und beim letzten Schlag drehte ich mich um und gab meinem Vater, zum zweiten Mal in meinem Leben, einen Kuss.
46
Etwa zwei Wochen später traf ich mich wieder mit meinem Vater und berichtete ihm, wie es zum Diebstahl meiner Erbstücke gekommen war. Ich nahm an, dass er mir die Geschichte glaubte, falls nicht, dann konnte er seine Zweifel gut verbergen. Wir aßen im Lhardy zu Mittag, und er schlug vor, dass wir uns in Zukunft häufiger sehen sollten. Ich lehnte ab, ohne dass ich einen vernünftigen Grund dafür gehabt hätte. Vielleicht dachte ich, dass es inzwischen zu spät war, nach den vielen Jahren, in denen wir nichts miteinander zu tun gehabt hatten, noch etwas aufholen zu wollen. Doch er schien nicht bereit, meine Ablehnung so einfach zu akzeptieren, sondern beharrte auf seinem Vorschlag. Und er erzielte zumindest einen Teilerfolg: Mein Widerstand begann langsam, aber sicher zu bröckeln. Wir gingen hin und wieder miteinander essen, ins Theater und zu einem Konzert im Teatro Real, einmal gingen wir sogar am Sonntagvormittag im Retiro-Park spazieren, wie er es dreißig Jahre zuvor mit meiner Mutter getan hatte. Er hatte viel Zeit, denn er war nun im Ruhestand. Nach Kriegsende hätte er seine Gießerei zurückbekommen können, doch er beschloss, sie nicht wieder in Betrieb zu nehmen. Später verkaufte er die dazugehörigen Grundstücke und lebte von dem Ertrag, den dieses Kapital nun einbrachte. Warum wollte er nicht weitermachen, warum brachte er nach dem Krieg sein Geschäft nicht wieder in Schwung? Aus purer Enttäuschung, denke ich. Welche Schläge das Schicksal in jenen Jahren für ihn bereithielt, hat er mir im Einzelnen nie erzählt, aber aus den Bemerkungen, die er bei verschiedenen Gesprächen in jener Zeit einstreute, konnte ich mir seine schmerzlichen Erlebnisse mehr oder weniger zusammenreimen. Er schien jedoch keinen Groll zu empfinden: Er war viel zu rational, als dass er sich von seinen Gefühlen das Leben hätte bestimmen lassen. Obwohl er zur Gesellschaftsschicht der Sieger gehörte, stand er dem neuen Regime äußerst kritisch gegenüber. Und er konnte wunderbar erzählen und herrlich ironisch sein. Es entwickelte sich eine besondere Beziehung zwischen uns, eine Freundschaft zwischen erwachsenen Menschen, die quasi bei null begann. Die vielen Jahre meiner Kindheit und Jugend, in denen er abwesend gewesen war, spielten nun keine Rolle mehr. In seinen Kreisen redete man über uns, spekulierte über die Natur unserer Beziehung, und es kamen ihm die wildesten Gerüchte zu Ohren, von denen er mir später lachend berichtete, aber wir hielten es beide nicht für nötig, die Dinge klarzustellen.
Die Zusammenkünfte mit meinem Vater öffneten mir die Augen für eine Seite der
Weitere Kostenlose Bücher