Das Echo dunkler Tage
Todeszeitpunkt bestimmen.«
»Allein anhand der Rigor mortis? «
»Äh …«, stammelte Jonan.
»Nein«, fiel San Martín ihm ins Wort. »Der Grad der Totenstarre variiert je nach muskulärem Zustand, Zimmertemperatur oder, wie in unserem Fall, Außentemperatur. Extreme Ausschläge nach unten oder oben können dazu führen, dass nur der Eindruck einer Rigor mortis entsteht, große Hitze zum Beispiel. Manchmal liegt auch eine kataleptische Totenstarre vor. Wissen Sie, was das ist?«
»Wenn sich bei Eintritt des Todes die Muskeln, zum Beispiel die der Hände, derartig zusammenziehen, dass man ihnen Gegenstände kaum entreißen kann.«
»Genau. Ein forensischer Pathologe muss äußerst gründlich vorgehen. Er darf den Todeszeitpunkt nicht einfach so bestimmen, sondern muss alle Aspekte berücksichtigen, auch Hypostasen, Leichenflecken und so weiter. Haben Sie schon mal eine dieser amerikanischen Serien gesehen, in denen der Rechtsmediziner sich über eine Leiche beugt und nach zwei Minuten den Todeszeitpunkt bestimmt?«, fragte er und zog theatralisch eine Augenbraue hoch. »Blanker Unsinn. Zwar können wir inzwischen per Kaliumanalyse der Augenflüssigkeit den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen, aber Verlässliches lässt sich immer erst nach der Autopsie sagen. Lassen Sie sich das von einem Mann, der dreizehn Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel hat, gesagt sein. Der Lebertemperatur nach zu urteilen, ist dieses Mädchen hier seit ungefähr zwei Stunden tot. Die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt.« Wie um seine Aussage zu bestätigen, berührte er noch einmal den Kiefer. »Das stimmt mit dem überein, was wir wissen: dem Anruf beim Bruder und der Vermisstenmeldung. Doch, ich würde sagen: knapp zwei Stunden.«
Amaia wartete, bis er aufgestanden war, und ging dann selbst neben dem Mädchen in die Hocke. Ihr entging nicht, wie erleichtert Etxaide war, dass er den Fragen des Rechtsmediziners nicht weiter ausgesetzt war.
Die Augen des Mädchens starrten ins Unendliche, der Mund war leicht geöffnet, als wäre sie überrascht worden oder als hätte sie noch einmal Luft holen wollen. Ein kindliches Erstaunen lag auf ihrem Gesicht. Ihre Kleidung war der Länge nach sauber durchtrennt und zu beiden Seiten aufgeklappt wie die Verpackung eines makabren Geschenks. Ein leichter Wind, der vom Fluss her wehte, strich ihr durch den gerade geschnittenen Pony. Ein Geruch nach Shampoo und Zigaretten stieg Amaia in die Nase. Sie fragte sich, ob das Mädchen geraucht hatte.
»Sie riecht nach Zigaretten. Hatte sie eine Handtasche dabei?«
»Angeblich ja, haben wir aber noch nicht gefunden. Unsere Leute durchkämmen gerade die Umgebung, einen Kilometer in diese Richtung«, erklärte Inspector Montes und zeigte zum Fluss.
»Fragt ihre Freundinnen, wo sie gestern waren und wer alles dabei war.«
»Sobald es hell wird, Chefin«, wandte Etxaide ein und klopfte auf seine Uhr. »Wir sprechen hier von Teenagern, die schlafen um diese Uhrzeit noch tief und fest.«
Amaia nahm die Hände der Toten in Augenschein. Sie waren weiß, nicht verschmutzt, die Handflächen zeigten nach oben.
»Habt ihr die Hände gesehen? Die wurden bewusst so hingelegt.«
»Das glaube ich auch«, stimmte ihr Montes zu. »Die müssen unbedingt fotografiert werden. Und kriminaltechnisch untersucht. Womöglich hat sie sich gewehrt. Die Fingernägel und Hände sehen zwar sauber aus, aber vielleicht haben wir Glück«.
Dr. San Martín beugte sich noch einmal über das Mädchen.
»Ich will der Autopsie nicht vorgreifen, aber ich würde tippen, dass sie erstickt wurde. So tief, wie sich die Schnur ins Fleisch gegraben hat, muss es sehr schnell gegangen sein. Die Stichwunden sind nur oberflächlich und wurden ihr beim Auftrennen der Kleidung zugefügt, mit einem äußerst scharfen Gegenstand übrigens, einer Klinge, einem Papiermesser oder einem Skalpell. Dazu kann ich nach der Autopsie mehr sagen. Fest steht jedenfalls, dass das Mädchen zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Es hat nämlich kaum geblutet.«
»Was ist mit dem Schamhaar?«, fragte Montes.
»Hat er ihr wahrscheinlich mit dem gleichen Gegenstand abrasiert.«
»Vielleicht eine Art Trophäe, Chefin?«, meldete sich Etxaide zu Wort.
»Kann ich mir nicht vorstellen. Dann hätte er die Haare nicht einfach achtlos weggeschmissen«, wandte Amaia ein und zeigte auf mehrere Haarbüschel, die um die Leiche verteilt lagen. »Ich glaube eher, er wollte sie weghaben, um ihr dann das da draufzulegen.«
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