Selbstmord (German Edition)
An einem Samstag im August verlässt du in Tenniskleidung deine Wohnung. Deine Frau begleitet dich. In der Mitte des Gartens lässt du sie wissen, dass du deinen Tennisschläger im Haus vergessen hast. Du kehrst zurück, um ihn zu holen, doch statt dich dem Schrank im Flur zuzuwenden, wo du den Schläger normalerweise aufbewahrst, steigst du hinunter in den Keller. Deine Frau bemerkt davon nichts, sie ist draußen geblieben, es ist ein schöner Tag, sie genießt die Sonne. Einige Augenblicke später hört sie einen Schuss. Sie stürmt ins Haus, sie schreit deinen Namen, merkt, dass die Tür zum Keller offen steht, läuft hinab und findet dich. Du hast dir eine Kugel in den Kopf geschossen, mit einem Gewehr, das du sorgfältig dafür präpariert hattest. Du hast auf dem Tisch einen Comicband aufgeschlagen liegen lassen. In ihrer Erschütterung stützt sich deine Frau auf den Tisch, das Buch fällt herunter und klappt zu, bevor sie begreifen kann, dass darin deine letzte Mitteilung war.
Ich bin niemals in diesem Haus gewesen. Dennoch kenne ich seinen Garten, das Erdgeschoss und den Keller. Ich habe diese Szene hundertmal gesehen, immer in derselben Kulisse, die ich schon beim ersten Mal vor Augen hatte, als man mir von deinem Selbstmord berichtete. Das Haus stand in einer Straße, es hatte ein Dach und eine rückwärtige Fassade. Aber nichts davon existiert wirklich. Es gibt den Garten, wo du ein letztes Mal in die Sonne trittst und wo deine Frau auf dich wartet. Es gibt die Fassade, auf die sie zuläuft, nachdem sie den Schuss hört. Es gibt den Eingang, wo sich der Schläger befindet, die Kellertür und die Treppe. Und schließlich gibt es den Keller, wo dein Körper liegt. Er ist unversehrt. Es ist nicht so, wie man mir sagte. Dein Schädel ist nicht explodiert. Du siehst aus wie ein junger Tennisspieler, der sich nach einem Match auf dem Rasen ausruht. Man könnte meinen, du schläfst. Du bist fünfundzwanzig. Du weißt jetzt mehr über den Tod als ich.
Deine Frau stößt einen Schrei aus. Niemand außer dir ist da, der ihn hören könnte. Ihr seid allein im Haus. Sie wirft sich weinend auf dich und schlägt vor Liebe und Wut auf deine Brust ein. Sie nimmt dich in ihre Arme und spricht zu dir. Sie schluchzt und stürzt sich auf dich. Ihre Hände gleiten über den kalten, feuchten Kellerboden. Ihre Finger kratzen in der Erde. Sie verharrt eine Viertelstunde so und spürt deinen Körper kalt werden. Das Klingeln des Telefons reißt sie aus ihrer Lähmung. Sie findet die Kraft, um hinaufzusteigen. Es ist der, mit dem ihr zum Tennis verabredet wart. »Hallo, was ist los? Ich warte auf euch.« »Er ist tot. Tot«, antwortet sie.
Hier bricht die Szene ab. Wer hat deinen Körper aufgehoben? Die Feuerwehr? Die Polizei? Hat ein Gerichtsmediziner ihn obduziert, weil ein Selbstmord auch ein getarnter Mord sein könnte? Gab es ein Verhör? Wer hat entschieden, dass es ein Selbstmord war und kein Verbrechen? Hat man deine Frau vernommen? Sprach man behutsam mit ihr oder stand sie unter Verdacht? Kam zum Leiden an deinem Verschwinden noch der Schmerz der Verdächtigung hinzu?
Ich habe deine Frau nicht wiedergesehen, ich kannte sie kaum. Ich bin ihr nur vier- oder fünfmal begegnet. Als ihr geheiratet habt, standen wir nicht mehr in Kontakt miteinander. Ich sehe ihr Gesicht vor mir. Seit zwanzig Jahren hat sie dasselbe. Mein Bild von ihr ist nach der letzten Begegnung erstarrt. Das Gedächtnis friert die Erinnerungen ein wie Fotos es tun.
Du hast in drei Häusern gelebt. Als deine Mutter mit dir schwanger war, bewohnten deine Eltern eine kleine Wohnung. Dein Vater wollte nicht, dass seine Kinder in beengten Verhältnissen aufwuchsen. Er sagte »meine Kinder«, obwohl er nur eines hatte. Mit deiner Mutter besichtigte er ein halb verfallenes Schloss, das einem Oberst der Fremdenlegion im Ruhestand gehörte; dieser hatte nie darin gewohnt, wegen der Bauarbeiten, die er für nötig hielt, um es bewohnbar zu machen. Dein Vater war als Leiter eines Bauunternehmens vom Umfang der ausstehenden Arbeiten wenig beeindruckt. Deiner Mutter gefiel der Park. Im April sind sie eingezogen. Am Weihnachtstag bist du in einem Krankenhaus zur Welt gekommen. Eine Hausangestellte sorgte dafür, dass im Schloss ständig drei Kaminfeuer brannten: eins in der Küche, eins im Wohnzimmer und eins im Zimmer deiner Eltern, wo auch du während der ersten zwei Jahre schliefst. Als dein Bruder geboren wurde, hatten die Bauarbeiten noch immer nicht begonnen.
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