Das einsame Herz
auf die Platte des Tisches. Unbewußt schob er die Hände unter, so daß sein Gesicht wie auf einem Kissen lag.
Versunken im Gestern schlief er und träumte von einem fernen Paradies, durch das er schritt, ohne es geahnt zu haben …
Plötzlich schreckte er auf und lauschte.
Klopfte es nicht an der Tür?!
Schlaftrunken ging er durch den Laden und öffnete das kleine Klappfenster, das in die Tür eingeschnitten war.
Eine junge Frau im langen Umhang stand zitternd auf der Straße.
Otto Heinrich öffnete die Tür, mit schnellen Schritten trat die Frau ein.
»Meinem Kind geht es schlecht«, stammelte sie, als müsse sie sich für die nächtliche Störung entschuldigen. »Es hat Magenkrämpfe. Der Doktor ist bei ihm. Er gab mir ein Rezept, das ich sofort besorgen muß.« Sie nestelte unter dem Umhang einen Zettel hervor und gab ihn Otto Heinrich. Ihre Hände waren lang, schmal und blaugefroren. »Sie möchten es sofort mischen, Herr Apotheker. Der Doktor wartet …«
Kummer nahm das Rezept mit zur Lampe und las die kritzelige Schrift. Es war ein Narkotikum, vorsichtig dosiert, gefährlich in größeren Mengen.
»Das Rezept steht unter dem Giftgesetz«, sagte Otto Heinrich und fühlte bei dem Wort Gift einen merkwürdigen Schauder. »Ich darf es nur geben, wenn Sie mir durch einen amtlichen Ausweis bekannt sind.«
Die junge Frau stammelte etwas und schüttelte den Kopf.
»Ich bin aus einem Dorf bei der Stadt. Mit dem Wagen bin ich über die Straße gehetzt wie der wilde Jäger. Mein Kind, Herr Apotheker, es stöhnt so … es wälzt sich im Bett. Mit Krämpfen! Herr Apotheker, da dachte ich nicht an Ausweise. Helfen … dachte ich nur … helfen, und der Doktor wartet und sagt, es sei schlimm! Wenn ein Doktor das sagt … muß es schlimm sein …« Und plötzlich brach sie in Weinen aus und lehnte sich an die Wand. »Helfen Sie mir, Herr Apotheker … ich bin ja ganz allein … mein Mann ist gestorben. Ich habe doch nur das eine Kind … helfen Sie mir … mein Kind …«
Das Weinen erstarb in einem haltlosen Schluchzen.
Otto Heinrich schwankte. Er trat an das Fenster und blickte hinaus. Am Brunnen auf dem Markt stand ein vierrädriger Bauernkarren. Das Pferd in der Deichsel zitterte an allen Gliedern nach der tollen Fahrt.
»Warten Sie einen Augenblick«, sagte er zu der jungen Frau und schob ihr einen Stuhl hin. »Ich werde Ihnen die Tropfen mischen.«
»Haben Sie Dank, Herr Apotheker …«, schluchzte sie und sank auf den Stuhl.
Ein Häufchen Leid.
Eine Mutter.
Mutter …
Wie in einem Traum ging Kummer ins Laboratorium und öffnete die Klappen des Giftschrankes.
Hohl stierten ihn die vielen Zeichen der Totenköpfe an. Und das Wort Mutter vor seinen Augen wurde zum grinsenden Schädel.
Mechanisch sah er auf das Rezept, zog einige Flaschen heraus, stellte die Feinwaage ein, legte die Schälchen zurecht und maß die Mengen der Arzneien ab.
Langsam ging er dann wieder zum Giftschrank.
Bleich fiel das Mondlicht auf die Totenköpfe.
Sie schienen zu leben.
Aus ihren Augenhöhlen leuchtete es schwach.
Gebannt sank Otto Heinrich auf den Stuhl und starrte auf die Flaschen.
»Was wollt ihr?« flüsterte er. »Ruft ihr mich?« Seine Stimme war heiser und hohl, als spräche sie in einem weiten, leeren Raum. »Könnt ihr nicht länger warten …?« Er tastete mit den Blicken über die Totenköpfe, zitternd bewegten sich seine Lippen … »Wie schön ihr seid …«, flüsterte er endlich und lächelte.
Gift … Gift … Hunderte Gifte …
Cyan … Urari … Curare … Belladonna … Kleesalz … Gift!
Mit zitternden Händen griff er nach einer Flasche.
Was stand auf dem Rezept … Belladonna … 0,02 … Belladonna …
Die Etiketten verschwammen vor seinen Augen, eine bleierne Müdigkeit, fast eine Lähmung drückte ihn herab.
Ein wilder Wirbel zuckte vor seinem Blick. Cyan … Kreosot … Belladonna … Kleesalz … Oxalsäure … Ein Wirbel, ein toller Wirbel … die Flaschen tanzten durcheinander …
Mit großer Anstrengung griff Kummer aus dem Tanz der Flaschen Belladonna.
Er wog die Menge ab, gewissenhaft, exakt.
0,02 g.
Er mischte die Arzneien, schüttelte sie und tropfte die Flüssigkeit in eine Flasche.
Eine würgende Übelkeit drückte ihm auf den Magen.
Achtlos schob er die Flasche Belladonna zur Seite und verpackte die fertige Medizin. Das Rezept legte er in den Giftkasten.
Dann trat er wieder in den Laden, gab der jungen Frau das Fläschchen und wünschte dem Kind gute
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