Das einsame Herz
flüsterte Otto Heinrich, »nun ist es soweit …«
Mit ruhiger Hand hob er den Glasstöpsel, schüttete eine große Dosis des starken Giftes in den Mischbecher und schüttelte dann die Flüssigkeit gut durcheinander.
Er ließ den Trank abstehen, nahm ein Trinkglas aus dem Instrumentenschrank, füllte es bis zum Rand mit dem Gift und schleuderte dann die noch halbvolle Flasche Curare in die Ecke zu der Lache der anderen Gifte, wo sie mit dumpfem Knall zerschellte.
Im Osten, über der Kuppe der Berge, schimmerte schwach in dem Schwarz der Nacht ein hellgrauer, langgezogener Streifen.
»Der Morgen«, murmelte Otto Heinrich und trat an das Fenster. »Die Sonne! Sei mir gegrüßt, du Tag der Erlösung …«
Langsam ging er zum Tisch zurück, besann sich kurz und trat an die Stirnwand des Zimmers.
Ein auswechselbarer Kalender hing dort in einem hölzernen Rahmen.
Mit einem Lächeln steckte Kummer die Blätter um für den neuen Tag.
Für den 13. Februar 1835.
Dann setzte er sich an den erkalteten Ofen und nahm das Glas in beide Hände.
Kurz dachte er an Dresden, an den Vater und die Mutter, an die kleine Anna Luise, an Maltitz, Bendler und Seditz.
Ein Zittern durchrieselte ihn, eine gellende Angst vor dem Gift.
»Mutter …«, stammelte er. »Mutter … Vater. Verzeiht mir … ich kann nicht anders. Seid gütig und verzeiht …« Einen Augenblick dachte er auch an Trudel, doch dann verschwamm das liebliche Bild, und sein Blick fiel auf das Glas in seiner Hand.
Es blinkte und glitzerte.
Zuckend huschte der unruhige Kerzenschein über die blanke Fläche.
Der dunkle, leise sich bewegende Trank lockte.
Mit bleichen Händen führte er das Glas an die Lippen und stürzte das Gift hinunter.
Als es durch seine Kehle rann, sprang er auf und griff wie ein Blinder um sich. Eine irre Angst schrie in ihm, ein plötzliches Bewußtsein, was er getan hatte.
»Nein!« schrie er. »Ich will nicht!« Er sah auf das Glas in seiner Hand, schrie auf und ließ es zu Boden fallen. »Was habe ich getan! Ich will nicht sterben …! Vater … Mutter … Mutter … ich will nicht! Mutter! Rette mich doch, hilf mir! Ich sterbe ja … ich sterbe …« Er stürzte zu einem Schrank in der Ecke, riß ein Gegengift aus den Fächern und taumelte zu den Gläsern zurück.
Eine plötzliche Lähmung hinderte ihn, die Arme zu heben.
Mit grauenvoll aufgerissenen Augen starrte er um sich. Er wollte zu dem Stuhl gehen, aber auch die Beine waren gelähmt, er wollte schreien und merkte, wie seine Zunge schwer wurde und die Kehle sich zusammenschnürte.
»Der Tod …«, röchelte er. »Der Tod …« Er fühlte, wie sein ganzer Körper einzeln starb, Glied um Glied, und wie der Tod an ihm emporstieg, grauenhaft langsam und unaufhaltsam. Die Kerze begann vor seinen Augen zu verblassen, die zuckende Flamme wurde fahl, versank in einem Nebel und erlosch. »Blind«, röchelte er. »Komm, komm doch … Tod …« Er fühlte ganz entfernt, daß er zu Boden fiel, und wollte rufen, doch er hörte nichts mehr. Es war dunkel und stumm um ihn. Nur denken konnte er noch. Klar und schrecklich denken. Und er dachte … Mutter … dachte immer nur Mutter … Mutter … liebe Mutter …
Und Mutter dachte er, als auch das Denken erlosch.
Über die Berge schob sich der Tag herauf.
Und es begann zu regnen …
An einem offenen Grabe, ausgelegt mit holländischen Tulpen, Christrosen und Veilchen aus den königlichen Treibhäusern, stand ein schlanker Mann in schwarzer Robe.
Das weite Rund der Trauernden schwieg. Der Pfarrer war zurückgetreten. Am Rande der Gruft stützte der Münzmarschall Kummer seine leise weinende Frau, das gebrochene Dorchen.
Und der Mann am offenen Grab streute Blumen auf den Sarg und warf eine kleine Rolle beschriebenen Pergamentes den Blüten nach.
Dann blickte er stumm in die Gruft, lange, als sänne er ein ganzes Leben zurück und sagte langsam mit einem Zittern in der tiefen Stimme:
»Wie kurz ihm auch den Lenz der Jugend
die Parze des Geschickes spann,
er lebte als ein Held der Tugend
und starb entschlossen als ein Mann.«
Noch einmal blickte er auf den Sarg, grüßte hinab und trat dann gesenkten Hauptes zurück.
Da trat der Münzmarschall zu ihm, ergriff seine schlaffe Hand und drückte sie fest und innig.
Groß blickten sich die beiden Männer an. Stumm, aufgerissen, unendlich traurig.
»Ich danke Ihnen«, sagte der Münzmarschall endlich mit zitternder Stimme. »Seien Sie auch mein Freund, Freiherr von Maltitz …«
Als die
Weitere Kostenlose Bücher