Das einsame Herz
ungeschliffen, ein Tölpel, wie der alte Knackfuß wohl zigmal am Tage brüllt. Ich muß es sein, Kollege – denn mit Weichheit kommt man zu nichts! Man muß hart sein, um bestehen zu können! Laß uns schlafen! Wir haben noch soviel Zeit, die Zukunft und die Sehnsucht anzuhimmeln. Gute Nacht, Kamerad!«
Er drückte Otto Heinrich Kummer die Hand und ging zum Bett zurück. Dort warf er sich mit einem Schwung auf die Decken, verschränkte die Arme unter dem Kopf, schloß aber nicht die Augen, sondern starrte an die weißgestrichene Decke.
Er wartete, bis der neue Freund sich entkleidet und niedergelegt hatte, drehte sich dann auf den Bauch und blickte zu dem anderen Bett hinüber.
»Noch eins, bevor du einschläfst. Der alte Knackfuß hat eine Tochter! So etwas von Tochter hast du noch nicht gesehen. Ein Mädel, bei dessen Anblick dir der Atem stehenbleibt. Eine Schönheit, wie du sie in der Dresdener Oper nicht sehen kannst. Das glatte Gegenteil von dem Alten. Wo er häßlich ist, blüht sie, wo er brüllt, streichelt sie. Sie ist die Sonne der Sonnen-Apotheke. Die Mutter ist schon lange gestorben – nun führt sie hier den Haushalt. Diese Tochter ist der Rubikon. Knackfuß wechselt jedes Vierteljahr die Gesellen, weil sie diesem Mädel schöne Augen machen. Er bekommt regelmäßig einen Tobsuchtsanfall, wenn er sieht, daß ein ›Flegel‹ – so nennt er alle – seine Tochter anhimmelt! Nimm dich also in acht. Schau sie nicht so oft an. Am besten ist, du übersiehst sie. Sonst hast du hier die Hölle en person! – Das wollte ich noch sagen. Und nun schlaf selig!« Er drehte sich geräuschvoll herum, zog die Decke bis zum Hals empor und schloß die Augen. »Trudel heißt sie …«, murmelte er noch, dann ging sein Atem wieder gleichmäßig und schwer wie der eines Schlafenden. Lange noch lag Otto Heinrich Kummer wach in seinem Bett und starrte an die Decke.
Als am Morgen die Sonne durch die Dachluke in die Kammer schien – eine trübe Septembersonne, ohne Kraft und Glanz, überzogen von nebligen Streifen, die von den Wäldern der Berge emporschwebten und wie feine Fäden durch die Wolken sich webten – stand Willi Bendler, wie er eben seinen Vornamen verraten hatte, schon im Flur an der Waschschüssel und tauchte den langen Schädel in das kalte Wasser.
Otto Heinrich dehnte sich in seinem Bett, breitete die Arme weit aus und blickte sich zum erstenmal mit Bewußtsein in seiner neuen Heimat um.
Die Kärglichkeit seiner Umgebung kam ihm erst bei dem grausamen Tageslicht voll zum Erkennen, und das Gefühl trotz des neuen Freundes nun erst richtig verlassen zu sein, einsam mit all seinem Leid und der Sehnsucht nach Licht und Freiheit, drückte ihm in der Kehle, daß er tief schlucken mußte und schnell aufsprang, um die drängenden Tränen nicht hervorquellen zu lassen.
Von draußen drang das Schnaufen Bendlers in die Kammer, der in seiner Waschschüssel wie ein kleiner Junge prustete.
Otto Heinrich mußte lächeln.
Sein Kamerad verstand das Leben – er kapselte sich gegen alles ab und war nur der wirkliche Mensch, wenn er in der Nacht in den Himmel starrte und die Größe des Alls sich vermischte mit der Einsamkeit seines heißen Herzens.
Langsam zog er sich an, wählte aus dem Koffer eine neue Halsbinde und eine frischgebügelte Hose, die ihm die Mutter als Sonntagsstaat mitgegeben hatte, und trat dann hinaus in den Flur, wo der Riese sich an einem Rollhandtuch abtrocknete und neues Wasser in die Schüssel geschüttet hatte.
»Guten Morgen, Kollege!« begrüßte er Otto Heinrich mit einer wohltuenden Fröhlichkeit. »Hinein mit dem Kopf ins kalte Wasser – ein Apotheker muß kühl denken und seine Sinne nicht erregen!«
Er warf dem Freunde einen großen Waschlappen zu, schrubbte sich selbst mit einer Riesenbürste die blitzenden Zähne und schickte sich dann an, seine Halsbinde unter viel Geschnaufe zu winden. Lachend half ihm Otto Heinrich aus dieser morgendlichen Qual, was Bendler damit vergalt, daß er ein großes Schwarzbrot auf den Tisch warf und einen Klumpen Butter dazu.
»Wohlan, mein Freund, laßt uns speisen!« rief er und knallte den einen Stuhl an den Tisch. »Unten bei dem alten Geizkragen gibt es zum Kaffee nur zwei dünne Honigschnitten – nebenbei vom schlechtesten Abfallhonig – und, wenn es hoch kommt, eine runde, möglichst kleine Semmel. Da heißt es vorher in der Stille essen und in der Sonne des Herrn den Kaffee loben!«
Mit einem großen Messer – bei Willi Bendler schien
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