Das einzige Kind
auch nicht weiter. Niemandem.«
»Kommt nicht in Frage.«
» Bitte! «
Er zögerte noch immer, dann legte er den Mund an ihr Ohr.
Sie lehnte sich an ihn. Sein Schnurrbart kitzelte sie im Ohr.
Dann lächelte sie. Wenn der Tag nicht so schrecklich lang gewesen wäre, hätte sie gelacht. Wenn nicht vor ihren Augen ein Kind ums Leben gekommen wäre, wenn sie nicht gewußt hätte, daß irgendwo eine Mutter saß, die ihr Kind verloren hatte und die sie eigentlich besuchen müßte, dann hätte sie schallend gelacht. Wenn nicht eine junge, tüchtige Kinderbetreuerin aufgrund von vielen unglücklichen Umständen in einer scheußlichen U-Haft-Zelle säße und dort auch bleiben würde, dann hätte sie vor Lachen gebrüllt. Aber so lächelte sie nur.
Das T. stand für Torvald.
Für den beliebtesten norwegischen Spitznamen für die Polizei.
Er hieß Billy Torvald!
Sie haben einen Pastor geschickt. Ich hatte noch nie mit einem Pastor zu tun gehabt. Aber ich wußte sofort, daß er einer war, obwohl er diesen komischen Kragen gar nicht trug. Er trug ein Jeanshemd. Mit offenem Hals, und dort lugte ein dunkler Haarwald hervor. Ich habe die ganze Zeit diese Haare angestarrt.
Er war noch nicht sehr alt, vielleicht um die Dreißig. Es war deutlich, daß er solche Besuche noch nicht oft gemacht hatte. Er stotterte und stammelte und blickte sich hilflos um. Am Ende mußte ich sagen, daß ich wußte, weshalb er gekommen war.
281
Schließlich konnte es nur einen Grund geben, warum ein Pastor zu mir geschickt wurde: Olav ist tot.
Er wollte nicht gehen. Ich mußte ihn fast vor die Tür setzen. Er blickte mich an, als ob ich ihn enttäuscht oder sogar schockiert hätte, weil ich nicht weinte. Er fragte, ob ich jemanden hätte, mit dem ich reden könnte, oder ob er jemanden holen sollte. Ich antwortete ihm gar nicht mehr, er hörte mir ja doch nicht zu.
Mir hat noch nie jemand zugehört. Ich war froh, als ich endlich die Tür hinter ihm zumachen konnte.
Auf irgendeine Weise habe ich es immer schon gewußt.
Vielleicht habe ich vom ersten Tag auf der Wochenstation an damit gerechnet, als er sich so riesig und unnormal auf meinen Bauch wälzte. Er hat auf irgendeine Weise nie einen Sinn gehabt. Vielleicht habe ich deshalb in den ersten Monaten nichts für ihn empfunden. Ich wußte, daß ich ihn nicht würde behalten können.
Schon als ich gestern nachmittag seinen Rücken sah, wußte ich es. Ich beugte mich aus dem Fenster und hoffte, er würde mich sehen und zurückkommen. Ich konnte ihn nicht rufen. Das hätten die Nachbarn doch gehört. Als seine breite Gestalt hinter der Nr. 16 verschwand, habe ich es gespürt. Er war verschwunden.
Ich fing an, seine Sachen aufzuräumen. Das Spielzeug, größtenteils zerbrochen. Seine Kleider, so groß, so wenig kleidsam, nie konnte ich etwas Schönes finden, das ihm paßte.
Seine Hefte, Schreibhefte mit großer, schiefer Handschrift, Rechenhefte. Jetzt liegt alles im Keller.
In seiner Schultasche steckte Flecki. Ein kleiner Hund mit langen Ohren, den hatte er zu seinem ersten Geburtstag von meiner Mutter bekommen. Das einzige Geburtstagsgeschenk, das er je von ihr bekommen hat. Er liebte den Hund und schämte sich, weil er ihn liebte. Aber er hatte ihn nicht im Kinderheim gelassen.
282
In der Schultasche steckten auch vier Messer. Ich weiß nicht, wie sie da hineingeraten sind, sicher hatte er sie aus dem Kinderheim. Er hat immer einen seltsamen Hang zu Messern gehabt. Es waren nicht die ersten Messer, die ich in seiner Schultasche gefunden habe. Ob er sich damit verteidigen wollte? Auf jeden Fall mußte ich sie zurückgeben. Sie gehörten mir ja nicht.
Gestern abend bin ich hingefahren. Ich weiß nicht mehr so recht, warum. Natürlich wollte ich die Messer zurückgeben.
Vielleicht war es auch nur ein Vorwand, um das Heim noch einmal zu sehen. Dieses entsetzliche Heim. Jetzt, vierundzwanzig Stunden später, wo soviel passiert ist, geht mir auf, daß ich auf irgendeine Weise begriffen haben muß, daß er dorthin wollte. Daß er sich von dem Heim angezogen fühlte.
Als ich auf das Haus zuging, widersetzte sich irgend etwas in mir. Ich blieb bei einem Spielplatz stehen, von dort sah ich die Umrisse des Gebäudes vor dem dunklen Himmel.
Die Heimleiterin war mit einem Messer ermordet worden. Mit einem Küchenmesser. Ich hatte vier Küchenmesser in der Tasche. Und die stammten aus Olavs Schultasche. Aus der Schultasche meines Jungen. Ich konnte sie nicht zurückgeben.
Ich mußte sie
Weitere Kostenlose Bücher