Das elektronische Glück
allem er selbst, weil er die Gesetze der ›Schuldigen‹ nicht akzeptieren will und nicht die Kraft findet, ›schuldlos‹ zu sein. Er balanciert auf einem Seil, ein Ende wird von der Bande seines Onkels gehalten – mit seiner Mutter und Polonius und Rosenkranz und Güldenstern, sogar mit seinem Freund Horatio – und das andere Ende von der Ewigkeit in Gestalt des Gespenstes seines Vaters. Das Gespenst ist schuldlos, weil es tot ist.
Es ist unmöglich, lebendig und nicht schuldig zu sein!«
Das schrieb ich nieder, nachdem ich einen Monat lang in die roten Farben des Spektrums geschaut hatte, eine verhängnisvolle Abendröte, die meine Seele durchdrang. Ich saß in diesem Sonnenwind, mit Mut und Geduld gewappnet. Das Gebäude meiner Vorstellungen war nicht etwa eingestürzt, sondern die Dimensionen hatten sich verschoben, und ich entdeckte tiefe Risse und Spalten.
Ich sah plötzlich mit aller Deutlichkeit, daß alles, was ich bisher getan hatte, nicht von echter Liebe getragen war – von Liebe zur Wahrheit, Liebe zum Vaterland, Liebe zum Menschen. Es war nur im kalten Licht der Eigenliebe gewachsen. Deshalb wurden meine Arbeiten, Aufsätze, Dissertationen, Diplome und Vorträge nicht schlechter. Sie verloren nur ihren Sinn. Ein kleines Quentchen uneigennützige Liebe hätte mein Leben in höchstem Maße sinnvoll gemacht. Jetzt gab es darin nur eine scheinbare Ordnung.
Funkeln des Geistes, Spiele mit Worten und Begriffen, die Routine eines Egoisten.
Ich empfand Schuld vor mir selbst und vor dem Werk, in dem ich echte Vollkommenheit erreichen wollte.
Vollkommenheit läßt sich zwar mit Erfahrung und Geschick erzielen, sie fällt jedoch eher einem Liebenden zu. Ein Knopf, mit Liebe angenäht, hält länger als ein anderer, der nach allen Regeln der Nähkunst, aber ohne Seele befestigt wurde. Ein Lied, ohne Stimme, aber mit Herz gesungen, klingt schöner, als von einem kalten Routinier vorgetragen. Ein Artikel eines verliebten Theoretikers über die Wechselwirkung von Photonen wird der Wahrheit näher kommen als eine Monographie eines angesehenen Akademiemitgliedes zum selben Thema. Wenn das ehrbare Akademiemitglied nicht ebenfalls eine Frau oder wenigstens die Natur liebt.
All das erfuhr ich während der Sitzungen, und ich wurde traurig.
In den Pausen erfuhr ich einige andere Dinge, die auf den ersten Blick keinerlei Beziehungen zu dem Experiment hatten. Ich erfuhr, daß Ignati Semjonowitsch freiwilliger Verkehrshelfer auf dem Kirow-Prospekt war. Er hatte nie ein Auto oder ein Motorrad besessen und träumte auch nicht davon. Wirklich nicht? – Mit einer roten Armbinde stand er auf der Fahrbahn, einen gestreiften Stab in der Hand, und lenkte den Verkehr mit geübtem Blick.
Ich erfuhr, daß Arsik mit seiner alten Mutter in einer Gemeinschaftswohnung lebte, in einem einzigen Zimmer. Sie hatten einen, Papagei in einem Käfig. Er konnte die Wörter »kohärent« und »Synchrophasotron« sprechen. Arsik hatte seine ehemalige Verlobte nicht geheiratet, weil das geliebte Mädchen unvorsichtigerweise seine Mama als »Dompteuse« bezeichnet hatte. Das erzählte mir Schurotschka.
Ich erfuhr, daß Katja eine Nähmaschine besaß und sich und ihren Freundinnen hübsche Sachen nähte. Geld nahm sie nicht dafür, es machte ihr einfach Spaß.
Katja hatte einen Freund, Andrej. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Er liebte sie. Als die Geschichte passierte, rief Andrej tagtäglich morgens und abends an. Katja sprach kühl mit ihm. Eigentlich redete sie nicht mit ihm, sondern hörte nur zu und sagte »nein«. Bald ging sie nicht mehr ans Telefon.
Ich hatte früher angenommen, man verspüre ein Gefühl der Pflicht und Verantwortung gegenüber einem anderen Menschen, wenn dieser ebenso denke. Es war nicht so. Mir fiel der Ausspruch von Saint-Exupéry ein, daß wir denen gegenüber verantwortlich seien, deren Neigung wir gesucht haben. Wie es sich herausstellte, sind wir sogar denen gegenüber verantwortlich, die uns gegen unseren Willen lieben. Es war unmöglich, nicht an Katja zu denken, ich wollte mehr über sie erfahren, wollte sie verstehen. Ich wurde in ihr Leben einbezogen und nahm gegen meinen Willen daran teil, aber mit dem Gefühl einer seltsamen, unbewußten Pflicht. Sie brauchte mein Pflichtgefühl nicht, es beleidigte sie, und ihre Liebe erwidern konnte ich nicht. Meine Liebe gehörte mir nicht.
Seit dem Tag, an dem ich zum erstenmal in die Okulare geblickt hatte, war ein Monat
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