Das elfte Gebot
nächsten Nachmittag betrat Bonaforte geräuschlos das Labor und beobachtete, wie Boyd gerade zwei verschlungene Ketten trennte. Er blätterte die Aufzeichnungen durch, dann setzte er sich hin und las sie sorgfältig. Von Zeit zu Zeit sah er auf und beobachtete Boyds Arbeit am Mikroskop.
„Sie haben exzellente Hände, Dr. Jensen“, kommentierte er, als Boyd sich schließlich streckte und entspannte. „Besser als meine jemals waren.“ Als er Boyds verblüfftes Gesicht sah, bekräftigte er seine Worte noch einmal. „Ja, zweifellos viel besser als meine zu meinen besten Zeiten. Alles was Ihnen noch fehlt, ist die nötige Erfahrung, damit Sie mehr Vertrauen in sie gewinnen.“
Danach ging er wieder, doch am nächsten Morgen sah Boyd, daß einige besonders schwierige Transformationen beendet worden waren, während er geschlafen hatte. Zusätzlich fand er neue Notizen in seinem Buch, die mit einer seltsamen, eckigen Schrift eingefügt worden waren. Er hatte überhaupt keinen Zweifel, wer in der Nacht für ihn gearbeitet hatte, doch Markoff bestätigte ihn nur sehr indirekt in seiner Meinung.
„Seine Heiligkeit verbringt hier mittlerweile soviel Zeit wie möglich. Er setzt seine Fähigkeiten für viele Projekte ein.“
Auch in den beiden darauffolgenden Nächten wurde die Arbeit fortgeführt, während Boyd schlief. Und er benötigte diese Hilfe dringend, denn die Zeit zerrann ihm unter den Fingern. Zwei weitere Forschungsobjekte existierten mittlerweile noch, die eine gewisse Hoffnung versprachen, doch Boyd mißtraute beiden, ohne recht zu wissen, weshalb. Vielleicht, weil sie viel zu sehr Routine waren und, wie Markoff schon gesagt hatte, dieses Problem nicht mit Routine gelöst werden konnte. Denn dieses lag an der Grenzlinie zwischen tierischem und pflanzlichem Leben, wo sogar die besten Theorien noch unvollständig waren.
Doch endlich konnte er sich über sein Mikroskop beugen und die winzigen Bänder der Nukleinsäuren betrachten, die sein Virus waren, geschaffen nach seinen eigenen Theorien. Es gab kein zweites Exemplar, das existierte, und er konnte niemandem außer sich selbst vertrauen, als er es der einzigen Nahrungsquelle zuführte, die er hatte auftreiben können. Er konnte es auch nicht auf eine Tierzelle ansetzen, denn es bestand immerhin die Gefahr, daß es Partikel mit einem gefährlichen Virus austauschen könnte und dadurch vollkommen verlorenging. Ben hatte einige Pflanzenzellen präpariert, indem er ihre äußeren Membranen geschwächt hatte, damit Fremdkörper leichter eindringen konnten. In eine dieser Zellen führte Boyd das Virus sorgfältig ein.
Es wuchs wundervoll und überwand das erste Hindernis bereits mit wehenden Fahnen. Boyd war sich nicht einmal sicher gewesen, ob er sich überhaupt würde reproduzieren können. Somit war ein Teil seiner Ideen also richtig gewesen. Nun konnte er sich an einen wirklichen Test machen.
Doch er wartete damit, bis Markoff Bonaforte unterrichten konnte. Schließlich hatte der Erzbischof selbst einen Teil der Arbeit erledigt und wollte sicherlich auch die Resultate selbst sehen.
Sie beobachteten gespannt, wie das Virus in eine Lösung mit normalen Pflanzenzellen gegeben wurde. Nichts geschah. Die Pflanzen schwammen umher, stießen mit dem Virus zusammen, doch die chemische Zusammensetzung der Membranen ließ das Virus nicht eindringen. Es konnte also ohne jegliches Risiko für die Pflanzen angewendet werden. Schließlich wurde eine Lösung mit Tierzellen infiziert, Boyd selbst näherte ein Viruspartikel einer größeren Zelle.
Das Virus schlüpfte mühelos durch die Zellwand. Es schien zu verschwinden, dann tauchte es im Nukleus wieder auf. Langsam begann das winzige Tierchen Anzeichen von Unbehagen zu zeigen. Es schwamm wie unsinnig hin und her, wobei es heftig mit seinen Schwimmhärchen ruderte. Stirnrunzelnd beobachtete Boyd, wie die Zelle unmerklich anschwoll. Schließlich ließen die wilden Bewegungen nach, auch die Schwellung ging wieder zurück. Zuletzt war die Zelle vollkommen still. Beim näheren Hinsehen erkannte Boyd eine letzte, konvulsivische Zuckung an der Oberfläche; etwas begann, aus der Zelle hervorzugehen. Ein Virus war in die Zelle eingedrungen, aber mindestens ein Dutzend kamen wieder hervor, um den Kampf mit anderen Zellen aufzunehmen.
Nach einer Stunde gab es keinen Zweifel mehr. In einer Mixtur aus pflanzlichen und tierischen Zellen fuhren die Pflanzenzellen glücklich mit ihrer Photosynthese fort, ohne sich weiter in
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