Das elfte Gebot
gedacht. „Das ist barbarischer Mord.“
„Ach was. Tut mir leid, aber das ist es nicht, sonst wären wir in der Lage, es zu ändern. Aus hiesiger Sicht ist das vollkommen humanitär und rational. Ein Kind, das vor der Taufe stirbt, kommt nach Limbo, in die Vorhölle – limbus infantum. Das ist zwar nicht ganz so schlimm wie die kindliche Verdammnis, die die Protestanten einst akzeptierten. Limbo ist ein freundlicher Ort. Aber dort wird dem Kind auf ewig verboten, die Vision Gottes sehen zu dürfen! Und eine Mutter, die die unsterbliche Seele ihres Kindes riskiert, wird nur schwerlich in einem Status der Gnade sterben. Retten Sie die Mutter, so verlieren Sie zwei Seelen. Auf der anderen Seite – stirbt sie in einem Status der Gnade und das Kind lebt und wird getauft, können beide die Segnung erringen. Sie können dagegen nicht logisch argumentieren, versuchen Sie es erst gar nicht.“
Boyd saß einfach da und erinnerte sich an die Dankbarkeit des Paares, sein Handrücken brannte, wo sie ihn geküßt hatte. Er griff nach der Whiskyflasche.
Harry war zurück und wartete auf ihn, als er ging.
„Großer Gott, sind Sie denn nicht müde genug, um zu Bett zu gehen?“ fragte Boyd zornig.
Harry schüttelte bestimmt den Kopf. „Nicht für Sie, Doktor. Von nun an niemals mehr!“
Seit fünfzehn Jahren hatte Boyd nicht mehr geweint. Nun brach es unbändig aus ihm heraus.
15
Das Römische Viertel lag zwischen einer der großen Frachtstraßen und einer gigantischen Ruinenmasse. Dort, auf einer Fläche von ungefähr vier Quadratblocks, mußte die gesamte römischkatholische Bevölkerung von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang leben und arbeiten. Dort verbrachten die Kinder und viele der Erwachsenen ihr gesamtes Leben und starrten neidvoll auf das vergleichsweise freie und luxuriöse Leben der Eklektiker für ein Leben der Häresie. Boyd konnte diese Glaubenskraft nur schwer verstehen, mit der man ein solches Leben ertragen konnte – und das schon fast zwei Jahrhunderte lang.
Er sah einen Zehnjährigen, der zurück zum Viertel rannte, verfolgt von einer Bande älterer Jungen, bis Boyd ihren Weg blockierte. Es gab keine Möglichkeit, ihnen den Schneid abzukaufen, aber er zog den Jungen an sich und ging mit ihm auf den Eingang zu. „Alles klar. Sie können dich nicht mehr kriegen.“
Der Junge bemühte sich krampfhaft, nicht zu weinen. „Sie haben mich einen dreckigen Römischen genannt. Einen dreckigen, dreckigen, dreckigen Römischen!“
„Schon gut.“ Es bedurfte keiner Erklärung, um zu sehen, daß dies der erste Ausflug des Jungen außerhalb des Gettos gewesen war. „Du bist römisch, und im Moment bist du fast so schmutzig wie sie auch. Warum willst du denn wegen der Wahrheit weinen?“
„Es war die Art, wie sie es gesagt haben“, protestierte der Junge. Dann sah er Boyd zum erstenmal genauer an. „He, Sie habe ich ja noch nie gesehen. Sind Sie römisch?“
„Nein, ich bin …“, begann Boyd, doch er bekam keine Chance, zu Ende zu sprechen.
Der Junge sprang weg von ihm, wobei er einen schrillen Schrei ausstieß. „Jiiiiiihhh! ’klektiker! Dreckiger ’klektiker!“
Es kam tatsächlich auf die Art an, wie er es sagte. Und die Tatsache, daß es nicht zutraf, machte den Vorwurf kaum weniger verletzend, als wenn er wahr gewesen wäre.
Boyd hörte neben sich ein Kichern. Er wandte sich um und sah Vater Semper, der ihn beobachtete. Noch immer lächelnd, kam der Priester auf ihn zu. „Ich wollte mich gerade um ihn kümmern, als Sie ankamen. Wie ich sehe, haben Sie Ihre erste Lektion bereits bekommen.“
„Nicht ganz. Ich bekam meine erste Lektion, als ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, sich um Hilfe für mich bemühte. Ich habe mich dafür noch niemals bei Ihnen bedankt, Vater Semper.“
„Wir alle müssen unseren Aufgaben nachkommen“, meinte der Priester, doch in seinen Worten lag kein Vorwurf. „Aber Sie sind auch heute nicht nur gekommen, um mir zu danken, nehme ich an. Kommen Sie. In der Kirche ist es etwas kühler und auch privater als hier draußen.“
Es war ein winziges, vollgepacktes kleines Bauwerk mit lediglich einem kleinen Fenster über dem Altar. Alles war verschlissen und alt, zu klein und zu armselig. Doch wieder einmal verspürte Boyd ein seltsames Gefühl der Ruhe und des Friedens, während sie durch das Kirchenschiff zu einem kleinen Seitenraum gingen, der kaum größer war als seine eigenen Zimmer.
Semper schob einen dreibeinigen Hocker heran und
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