Das Elixier der Unsterblichkeit
Stalins treuester Jünger, im Begriff war, Ungarn in eine Mini-Sowjetunion zu verwandeln. Nur allzu vertraut mit dem Blutdurst der Partei, sah Nathan Hekatomben von Menschenopfern vor sich. Er weigerte sich, die Rolle des Henkers zu übernehmen. Das war nicht die Zukunft, von der er geträumt hatte.
ONKEL CARLO
Nach vier Jahren in sowjetischer Gefangenschaft kehrte Onkel Carlo nach Budapest zurück, in einer Gestalt, die so verändert war, dass die Familie erschrak. Sein ehemals schmächtiger und schlaffer Körper war muskulös und athletisch geworden, sein Gesichtsausdruck hatte etwas Tierisches angenommen. Offenbar hatte er eine ordentliche Gehirnwäsche hinter sich. Seine Worte enthielten bittere Nebentöne. Sein glühender Hass auf die Faschisten, die ihn als Arbeitssoldaten auf die Todesfelder geschickt hatten, war nicht zu übersehen. Er prahlte erregt damit, dass eine hochstehende Person in der Partei ihm angeboten habe, für den Sicherheitsdienst zu arbeiten. Großvater sah ihn mit einem skeptischen Blinzeln an und zitierte sarkastisch eine Zeile aus Benjamins Buch: »Ein Fisch und ein Vogel können sich ineinander verlieben.« Großmutter flehte ihn an, eine andere Arbeit zu suchen. Aber er entgegnete, es sei eine Ehre, in den Kreis rechtgläubiger Kommunisten aufgenommen zu werden und der Partei dienen zu dürfen.
Carlo war stolz auf seinen ersten größeren Auftrag, der ihm auf Befehl von Mátyás Rákosi übertragen worden war. Er sollte Außenminister László Rajk verhören, der zuvor in seiner Eigenschaft als Innenminister die Polizei des Landes zu einem willfährigen Werkzeug in den Händen der Partei gemacht hatte. Das loyale Parteimitglied war angeklagt, mit der CIA und mit Tito konspiriert und kooperiert zu haben, um das kommunistische Regime in Ungarn zu stürzen. Er hatte mehrere Tage Schlafentzug hinter sich. Jetzt, wo er ordentlich weichgekocht war, ging es für Carlo darum, ein Geständnis zu erzwingen. Er arbeitete methodisch. Er riss Rajk die Kleider vom Leib, schlug ihm mit dem Pistolenkolben auf den nackten Brustkorb, die Schultern, den Rücken, die Schenkel, die Geschlechtsorgane. Jeder Körperteil sollte seine Macht als Verhörleiter spüren. Er misshandelte den Außenminister über zwei Stunden lang. Dann machte Carlo eine Pause und suchte in Rajks Gesicht nach einem Zeichen des Nachgebens. Aber obwohl ihm nicht mehr viel Gesicht geblieben war, schwieg er. Da steckte Carlo ihm den Lauf der Pistole in den Mund und drohte damit abzudrücken. Doch nichts, kein Wort, keine Geste, kein Zeichen. Das Verhör ging weiter. Carlo hätte jedoch ebensogut die Wand misshandeln und von ihr eine Antwort fordern können. Das Ergebnis wäre das gleiche gewesen. Rajk weigerte sich, ein Verbrechen zu gestehen. Mit jedem Tag, der verging, wurde Carlo reizbarer vor Überanstrengung und griff zu noch härteren Foltermethoden. Nach zwei aufreibenden Wochen bekam er einen freien Tag. János Kádár übernahm. Er war Rajks bester Freund und Pate seines kürzlich geborenen Sohns. Kádár erklärte, alle seien von Rajks Unschuld überzeugt, aber die Partei brauche einen Sündenbock. Er unterstrich, dass Rajk sich zum Besten der Partei, des Kommunismus, des Volkes und nicht zuletzt seiner eigenen Familie opfern und ein Geständnis unterschreiben müsse. Das sei das mindeste, was man von einem wahren Kommunisten erwarten könne. Offiziell würde sein Geständnis zur Verurteilung und zu einer strengen Strafe führen. Aber in Wirklichkeit würde er schon am nächsten Morgen das Land verlassen und zusammen mit seiner Familie und mit einer neuen Identität in der Sowjetunion ein neues Leben beginnen. Rajk zögerte mit der Antwort. Da erzählte Kádár, dass Rajks Frau mit Stillfieber in einem anderen Gefängnis sitze und ihr kleiner Sohn von den Sozialbehörden in Obhut genommen worden sei. Jetzt unterschrieb Rajk sein im voraus von anderen formuliertes Geständnis. Er hoffte, umgehend seine Familie wiedersehen zu können. Aber man hängte ihn noch in derselben Nacht.
Es dauerte anderthalb Jahre, bis Carlo wieder ein Verhör eines Mannes aus der Parteispitze anvertraut wurde. Einige Wochen zuvor hatte Innenminister János Kádár seinen Posten räumen müssen, aus »gesundheitlichen Gründen«. Aber der allmächtige Parteichef Mátyás Rákosi war mit dem Stand der Dinge immer noch nicht zufrieden. Auf einem Parteitreffen kritisierte er offen den neuen Innenminister Sándor Zöld und den abgesetzten Kádár. Zöld
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