Das Ende - Alten, S: Ende
Punkt des Felsenstegs gelangt, der auf die Mitte des Gräbergrabens lotrecht niederschaut. (…) Ich sah im Grund des Tals und an den Seiten gar viele Löcher, alle rund, und jedes von gleicher Größe in dem fahlen Stein. (…) Hervor aus jedes Loches Öffnung ragten die Füße und die Beine eines Sünders bis an die Waden; drinnen stak der Rest. Bei allen aber flammt es auf den Sohlen der beiden Füße, daß sie im Gelenk, als gält es Bänder zu zerreißen, zuckten.«
DANTE, Die Göttliche Komödie,
»Hölle«, Neunzehnter Gesang
21. DEZEMBER
Tribeca, Manhattan, New York
6:07 Uhr
(1 Stunde und 56 Minuten vor dem prophezeiten Ende der Tage)
Das Treppenhaus war leer, und das war ein gutes Zeichen. David Kantor erreichte den Treppenabsatz im zweiten Stock mit bleiernen Beinen; seine Oberschenkel brannten
wegen der Milchsäure, die sich nach der langen Fahrt mit dem Rad in seinen Muskeln angesammelt hatte.
Die Zeit wird knapp … Los, lauf weiter!
Er packte das Geländer und zog sich Stufe für Stufe schwer atmend nach oben.
Die Fahrt auf dem Zehn-Gang-Rad durch Manhattan war tückisch gewesen. Nur unter großen Mühen hatte David angesichts seiner militärischen Ausrüstung die Balance halten können, und er hatte es kaum geschafft, mit seinen schweren Stiefeln auf den Pedalen zu bleiben. Andererseits war das Rad so schmal, dass er sich durch die Masse der stehenden Fahrzeuge hatte hindurchfädeln können, und die lautlose Art, sich fortzubewegen, hatte verhindert, dass er von den Soldaten entdeckt worden war.
Doch wie sich zeigte, war das Militär sein geringstes Problem.
Als er durch die Upper West Side raste, machte er den Fehler, der Avenue of the Americas zu folgen. Das CBS-Gebäude. Der Turm der Bank of America. W. R. Grace. Macy’s. Die braune Wolkendecke am Himmel hatte die Gebäude aus Glas und Stahl auf dem Streckenabschnitt, der manchmal als »Wolkenkratzergasse« bezeichnet wurde, in Teile einer düsteren Albtraumszenerie verwandelt, die direkt den Fantasien eines Wayne D. Barlowe entsprungen zu sein schien.
Es war, als fielen Leichen direkt aus den bizarren Wolkenformationen – fliegende Säcke aus Fleisch und Blut. Eine Frau krachte mit dem Gesicht voran auf das Dach eines Taxis, doch sie starb nicht bei dem Sturz, und so lag sie entstellt und mit gebrochenen Knochen einfach nur da.
Ein plötzlicher Adrenalinstoß vertrieb seine Müdigkeit. Er raste an der Rockefeller Plaza vorbei, ohne einen Blick auf den Berg aus Toten zu werfen, der auf der Eisbahn aufgeschichtet worden war. Rasch durchquerte er den Garment District und Chelsea, und durch den Bogen am Washington Square erreichte er Greenwich Village, ein Künstlerviertel, in dem er fast seine gesamte Collegezeit verbracht hatte. Weil die Studenten glücklicherweise in den Weihnachtsferien waren, war der Campus der New York University verlassen, sodass er, ohne auf Hindernisse zu stoßen, quer über die Wege seiner Alma Mater fahren konnte. Er rollte am alten Reihenhaus seiner Eltern und an den ihm so vertrauten Basketballplätzen an der Desalvio und der Bleeker Street vorbei, wo er Tausende von Stunden mit Spielen verbracht hatte. Wie die Eisbahn waren auch diese asphaltierten Rechtecke zu Orten geworden, an denen man die unbegrabenen Scythe -Opfer abgeladen hatte – und zu einer Art Grenzgebiet eines Schlachtfelds, auf dem sich die Mitglieder verschiedener Gangs tummelten, die entschlossen waren, das Village in einen einzigen gewaltigen Schießplatz zu verwandeln.
Ohne Vorwarnung erklang Maschinengewehrfeuer aus einer Senke, und plötzlich war er wieder im Irak, wo überall und nirgends unsichtbare Angreifer lauerten. Eine Kugel streifte seine Schulter, eine andere prallte an einem Gullydeckel ab und traf sein Rad, sodass er zwischen den Reihen verlassener Autos in Deckung gehen musste. Geduckt schob er das Rad durch den schmalen Spalt zwischen den Fahrzeugen und schaffte es, das umkämpfte Gebiet zu verlassen und SoHo zu erreichen.
Die trendige Einkaufsgegend südlich der Houston Street – So uth of Ho uston Street – glich einer entmilitarisierten Zone. Acht Stunden zuvor waren die Anwohner
Amok gelaufen und hatten die Geschäfte des Stadtteils geplündert und zerstört, bis sie auf SWAT-Teams in Schutzanzügen gestoßen waren, die nur wenig Toleranz zeigten. Die von Kugeln zersiebten sterblichen Überreste der Plünderer hatte man einfach in den zerstörten Auslagen der Geschäfte unter den zerfetzten bunten
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