Das Ende - Alten, S: Ende
die Männer und Frauen in ihrem Elend nicht nur deshalb so zahlreich auftauchen, weil sie atmen wollen; sie scheinen ebenso von einem herabströmenden Licht angezogen zu werden.
Von Seinem Licht!
Patrick schaudert vor Entsetzen. Tyrannen und Mörder … Ist das das Schicksal, das mich erwartet?
»Hilf mir. Bitte.«
Auf der Suche nach der Quelle dieses Flehens entdeckt Shep ein Loch von der Größe eines Kraters unmittelbar jenseits des Ufers. Die Öffnung zeigt ihm eine zweite Ebene, die unterhalb der ersten liegt. Dort befindet sich ein fremdartiger Wald aus lauter Bäumen, die keine Blätter, sondern nur Dornen tragen. Die Stimme, die Shep anfleht, gehört einem Mann Mitte vierzig, der einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine gemusterte Krawatte trägt.
Shep erkennt ihn. Das ist der Mann, der auf den Van gekracht ist. Der Selbstmörder.
Noch während er zusieht, verwandeln sich die Füße des Mannes in Wurzeln, die sich in die aschene Erde graben. Seine Arme werden zu steifen Ästen, seine Finger zu scharfen Dornen.
Harpyen schweben von Ast zu Ast auf diesem neu entstandenen Selbstmörder-Baum. Die Kreaturen – halb Frau, halb Vogel – suchen nach Blättern und reißen jede Andeutung von Grün aus den baumartig-menschlichen Ästen, kaum dass es zu sprießen begonnen hat.
Shep kann nicht erkennen, was unter dem Wald der Selbstmörder auf der dritten Ebene geschieht, doch er kann das Echo der Schreie und der gequälten Rufe hören, die sich, von Blasphemie erfüllt, an Gott richten.
Ein inzwischen vertrautes Gefühl bringt Shep dazu, nach oben zu blicken. Der Sensenmann starrt ihn aus Augen an, die aus Hunderten von zuckenden Pupillen bestehen, und das Grinsen der Kreatur lässt Patrick das Blut in den Adern gefrieren. Eine Knochenhand schiebt sich aus der dunklen Robe heraus auf ihn zu …
… und eine andere Hand riss ihn energisch vom siebten Kreis der Hölle zurück.
Shep schrie auf, wirbelte herum und sah in Virgils Gesicht.
»Geht es dir gut? Nein, es geht dir nicht gut. Ich kann es an deinen Augen erkennen.«
Verwirrt suchte Shep nach dem düsteren Schnitter. Doch sowohl der Todesengel als auch die Öffnung in der Erde waren verschwunden.
»Patrick?«
»Ich halte das nicht mehr aus, Virgil. Die Halluzinationen … die Schuld. Doch schlimmer, viel schlimmer,
ist die Einsamkeit. Immer fühle ich mich innerlich leer. Es ist wie ein Gift, das langsam jede Zelle meines Körpers verschlingt. Nur aus Angst vor dem, was im Jenseits mit Selbstmördern geschieht, habe ich mich in den letzten Jahren noch nicht umgebracht. Ich komme mir so verloren vor … von Dunkelheit umhüllt.«
»Es ist noch nicht zu spät, Patrick. Du hast noch immer Zeit, dich zu verändern und dein Gefäß mit Licht zu erfüllen.«
»Wie? Sag’s mir!«
»Du musst dir selbst erlauben, wieder etwas zu fühlen. Wo es Liebe gibt, ist auch immer das Licht.«
»Alles, was ich empfinde, ist Leere.«
»Weil du Angst hast, wirklich etwas zu fühlen. Hör auf, deine Gefühle zu verschließen. Lass zu, dass du Schmerz und Leid erfährst. Du musst bereit sein, der Wahrheit ins Angesicht zu blicken.«
»Der Wahrheit worüber? Was weißt du, Virgil? Was hat dir dein Kumpel DeBorn über mich erzählt?«
Mit wirrem Blick eilte Paolo auf sie zu. Eine ganz eigene Halluzination peinigte seinen Geist. »Dort! Am Himmel! Seht ihr es? Ein Dämon!«
Shep und Virgil sahen auf.
Die Reaper-Drohne schwebte unmittelbar unter den wirbelnden braunen Wolken, und ihre scharlachrote Kameralinse spähte aus der Höhe auf die kleine Gruppe herab.
Blinzelnd musterte Virgil das Flugobjekt. »Das ist kein Dämon, Paolo. Das ist eine militärische Drohne. Wo sind die Patels?«
Ein grauer VW-Bus rollte um die Ecke des Bürgersteigs. Kleine Rauchwolken stiegen aus seinem klappernden Auspuff auf, als der Wagen anhielt und das Vibrieren
des mechanischen Monstrums im Leerlauf kleine Wellen über die überfluteten Straßen tanzen ließ. Pankaj steuerte das Fahrzeug, seine Tochter und seine Frau saßen neben ihm. Francesca lag auf der dritten Sitzbank im Heck.
Pankaj kurbelte das Fenster herunter. »Die Soldaten kommen. Rein mit euch!«
Shep riss die Schiebetür auf und half Paolo und Virgil in den Wagen. Das vierrädrige Relikt aus einer früheren Zeit schob sich die Park Avenue hinab in Richtung Lower Manhattan, während das Wasser zu beiden Seiten in die Höhe spritzte.
ACHTER HÖLLENKREIS
BETRÜGER UND FÄLSCHER
»Wir waren schon hinauf bis zu dem
Weitere Kostenlose Bücher