Das Ende der Liebe
hat; sie sehen mehr, als jeder je gesehen hat. Das Licht kommt von allen Seiten, wie von tausend Sonnen. Zu viel Licht. Ein Tunnel, ja, das wäre die Rettung. Ein Mauseloch, in dem die Menschen sich verkriechen könnten vor ihren unbegrenzten Möglichkeiten, wo sie ihre Freiheit abstreifen könnten wie einen Winterpelz, der seine Schuldigkeit getan hat, der jetzt, mit dem Fortschreiten des Jahres zu seiner Mitte hin, nur noch eine Qual ist, eine erstickende, brennende Schwere.
Die Menschen finden aber keinen Weg mehr heraus aus dem Licht. Sie bleiben zum unendlichen Sehen – der möglichen Partner und Selbstentwicklungen – gezwungen. Ihre [281] Welt gleicht einem Gefängnis der Panoptikum-Bauart; doch die Menschen sitzen nicht mehr in den Zellen, welche – strahlenförmig angeordnet – von nur einem Wärter in der Mitte beobachtet werden können. Sie sind an die Stelle des Wärters getreten. Sie haben ihre Möglichkeiten immer im Blick. Aus der Unausweichlichkeit des Gesehenwerdens ist die Unausweichlichkeit des Sehens geworden, aus dem permanenten Überwacht- und Bestraftwerden, ein permanentes Überblicken und Begehren, die Qual steter Hoffnung und Sehnsucht.
Während die Menschen also vergeblich darauf warten, dass ihnen schwarz vor Augen werde, wird es ihnen, mit der Zeit, immerhin grau.
Die Menschen stehen ja nicht vor der Wahl wie vor einem Regal in einem Geschäft. Sie bewegen sich vielmehr mit großer Geschwindigkeit in einem Vehikel, das sie zwar steuern, aber nicht bremsen oder zum Stillstand bringen können. In irgendeine Richtung rast es immer. Dieses Vehikel ist die Zeit, ihre Zeit.
Die vergehende Zeit macht, dass Freiheit immerzu in Tatsachen übergeht, in Wahlen, auch wenn die Menschen bewusst nicht wählen. Das Vor-der-Wahl-Stehen stürzt pausenlos ins Schon-Gewählt-Haben. Denn wer zu wählen noch zögert, hat das Zögern schon gewählt. Das Warten, das Nichts.
Freiheit ist so wenig haltbar wie frische Milch. Mit der Zeit verlieren die Menschen sie entweder an die Wiederholung des Immergleichen, die unendliche, süchtige Wiederholung ihrer Begegnungen und Liebesanfänge; oder sie verlieren sie an die Hoffnung, das Abwarten in Einsamkeit und Enthaltsamkeit, das Nichts; oder sie verlieren sie an eine Entscheidung – eine Möglichkeit, die alle anderen, vorerst, zunichte macht. Die Wiederholung, das Nichts, die Entscheidung – das [282] sind die Möglichkeiten, seine Freiheit zu verlieren. Was der Mensch auch tut oder nicht tut, mit der Zeit nimmt seine Freiheit ab, sie verwandelt sich in Wiederholung, Nichts, Entscheidung, wie die Milch klumpig, dick und sauer wird.
Natürlich handelt es sich dabei nicht um einen Freiheitsverlust im Sinne einer künftigen Entscheidungsunmöglichkeit, der Unumkehrbarkeit aller Beschlüsse. In dem Sinne gibt es kein Ende der Freiheit mehr. Mit Blick auf die Zukunft bleibt die Freiheit immer erhalten. Doch in der Gegenwart ist ein unendliches Vor-der-Wahl- und Vor-der-Welt-Stehen unmöglich. Wenn Freiheit der Augenblick vor der Entscheidung ist, ein unschuldiges Noch-nicht-in-der-Welt-Sein, ein vorgeburtliches Schweben und Alle-Möglichkeiten-noch-vor-sich-Haben, dann ist sie flüchtig, verderblich. Die Freiheit überschreitet sich zwanghaft auf Tatsachen hin. Mit jedem Ticken des Sekundenzeigers wird der freie Mensch ein Stück weiter in die Welt gepresst, verliert er seine Freiheit. Das leere Blatt der Freiheit – entweder beschreibt der Mensch es willentlich, oder die Zeit tut es für ihn.
Die Menschen aber meinen lange, dass sie die Freiheit nur an Entscheidungen verlieren können. Sie glauben, unendlich lang über der Welt schweben, ihr Geborenwerden hinauszögern zu können. Sie lieben nicht, denn sie lieben ihre Liebesmöglichkeiten, sie arbeiten nicht, denn sie lieben ihre Arbeitsmöglichkeiten, sie sind nicht zu Hause in einer Stadt, denn sie lieben ihre Städte- und Ländermöglichkeiten. Sie sagen: »Noch bin ich frei. Noch habe ich alles vor mir.« Tatsächlich haben sie, in der Gegenwart, ihre Freiheit längst an die Wiederholung, das Nichts verloren. Die Menschen begreifen es nicht.
Sie haben lange Zeit kein Zeitbewusstsein. Daher ist es kein Wunder, dass ihnen die Zeit schließlich schockartig zu Bewusstsein kommt. Die freien Menschen werden sich ihrer [283] Wiederholungen bewusst, ihres Nichts. Sie verstehen: Jede Entscheidung gegen eine Entscheidung, eine Festlegung, ist eine Entscheidung für die ewige Wiederholung, das Nichts. Sie werden
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