Das Ende der Liebe
narzisstisch bist.«
Wenn die Begegnung dann in den Sex stürzt, schon wieder in den Sex stürzt, nehmen die freien Menschen alles, was sie tun, als eine sogenannte Stellung und Technik , als eine sexuelle Praktik wahr.
Nichts, was zwei Menschen miteinander tun könnten, wäre an sich schon pornografisch. Erst wenn das Bewusstsein nicht mehr zwei einmalige Menschen in einer einmaligen Begegnung wahrnimmt, sondern eine Wiederholung – die Wiederholung von Menschen und die Wiederholung einer Begegnung – sieht das Bewusstsein Blasen und Lecken und von vorn und von hinten . Erst dann erscheint den Menschen alles, was sie tun, als ein Muster, als Klischee der Bewusstseins- und Pornoindustrie, als Kopie ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer Fantasie, ihres industriell und biografisch verseuchten Bewusstseins.
Pornografie ist Wiederholung, Bewusstsein von Wiederholung. Man versteht die Scham und den Ekel der freien Menschen nicht, wenn man ihre Begegnungen nur wie einmalige, erstmalige Begegnungen betrachtet. Denn erst im Laufe vieler Begegnungen haben die Menschen ein Bewusstsein ihrer Wiederholungen ausgebildet, sind sie sich selbst unerträglich bekannt geworden. Mit den Entdeckungsmenschen [275] gab es noch keine Stellungen und Techniken , nichts war als Stellung oder Technik bekannt. Ekel ist das Bewusstsein des Immergleichen, einer Freiheit, die sich an die Wiederholung verloren hat, Wiederholungsbewusstsein. Erst im Laufe der Zeit haben die Menschen begonnen, sich vor romantischen Situationen und sexuellen Praktiken zu ekeln, die ihnen als Wiederholungen unerträglich bekannt geworden waren. Im hypertrophen Bewusstsein der freien Menschen wohnt allem Anfang ein Ekel inne – denn es ist der hundertste und tausendste Anfang.
[277] SCHLUSS DES BUCHES
(NICHT JEDOCH DER SUCHE)
[279] NEUN
DIE RÜCKKEHR DER VERNUNFTEHE
Das neunte und letzte Kapitel: in dem erzählt wird, wie den Menschen, denen alles möglich schien, am Ende nichts mehr möglich ist als die Rückkehr zur Vernunftehe; dass sie ihre Freiheit mit der Zeit verlieren müssen: entweder an die Wiederholung des Immergleichen oder an die Hoffnung, das Abwarten; oder – schließlich – an eine Entscheidung und Bindung; in dem erzählt wird, dass die Menschen ihre Suche schließlich abbrechen; dass nicht mehr die Eltern sie zu einer Vernunftehe zwingen, sondern die Zeit; dass die Menschen, die sich immer wieder für das Abwarten und Hoffen entschieden haben, jetzt unter einem schrecklichen Zeitdruck stehen; dass sie also nicht vor Gott in den Stand der Ehe treten, sondern im Angesicht des Todes; in dem erzählt wird, dass die Menschen eine vernünftige Wahl treffen, dass sie einen wählen, der ihnen, wie sie sagen, »gut tut«; dass die Freiheit sie gezwungen hat, sich immerzu zu fragen, was sie wollen, und dass sie also einen Partner aus guten Gründen wählen, nicht aus Leidenschaft, sondern aus Vernunft; dass ihr Schmerz also zu einem Schmerz der Vernunftehe wird, dass Sehnsucht und Scham sich noch einmal verdoppeln; in dem erzählt wird, dass die Menschen tatsächlich auch in der Vernunftehe nicht aufhören können zu suchen, dass ihnen die Fähigkeit zur Resignation fehlt; dass die einzige Hoffnung für sie in der Verzweiflung bestünde
[280] Was dürfen die freien Menschen hoffen? Was sollen sie hoffen?
Natürlich nichts!
Sie haben ja schon zuviel Hoffnung. Sie können ja nicht lieben, weil sie nicht aufhören können zu hoffen. Die Hoffnung der Menschen treibt sie über jeden Partner, jede Arbeit, jeden Ort – jede Existenzmöglichkeit – hinaus, drängt sie über die Klippe alles Lebbaren, in den Schlund der unbegrenzten Möglichkeiten, in eine fantastisch gewordene Existenz. Die Hoffnung verdammt sie zu einem reichen Fantasieleben, doch der Unmöglichkeit jedes Lebens in Wirklichkeit. Das bedeutet: Die freien Menschen dürfen, solange sie hoffen, nichts hoffen. Solange sie Hoffnung haben, ist ihre Lage hoffnungslos. Sie sollten verzweifeln!
Doch das ist ein Rat, den man nicht geben kann. Denn Menschen, die wissen, dass sie verzweifeln sollen, nur um wieder hoffen, wahrhaft hoffen zu dürfen – sie können ja nicht verzweifeln. Verzweifeln kann man nur in vollständiger Dunkelheit, nicht in der Sonne der Verzweiflungszwecke. Ein Licht, wie man sagt, am Ende des Tunnels? Die Menschen brauchten nichts mehr als einen Tunnel, einen langen, endlosen, lichtlosen Tunnel. Sie stehen auf einem Plateau; mit der besten Aussicht, die je ein Mensch gehabt
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