Das Ende der Liebe
keine Phase endgültig abschließen. Denn dann, so denken sie, verlören sie die Freiheit – erscheint ihnen diese doch stets auch als Freiheit, weiterzumachen wie bisher, nichts zu beenden, sich nicht anzupassen an die Konventionen des Alters, der Gesellschaft.
Die Menschen lieben also ihre unendliche Selbstwiederholung – und hassen sie im gleichen Maß. Denn in ihrem [272] Bewusstsein wird die Wiederholung, die doch eigentlich ein Ausdruck unendlicher Freiheit sein soll, zu Gewohnheiten und Süchten, Mustern und Mechanismen, also zu Unfreiheit. Die freien Menschen sind sich selbst unerträglich bekannt.
Wenn die Menschen einem begegnen, den sie lieben wollen, so ist die Begegnung eine Wiederholung ungezählter anderer, früherer Begegnungen , die ähnlich gewesen sind. Jedes Wort und jede Geste wiederholen sich selbst. Der Ort, an dem die Menschen dem zu Liebenden begegnen, ist eine Wiederholung von Orten, an dem sie anderen zu Liebenden begegnet sind. Es ist schon wieder ein Café, wieder ein Kino, wieder ein Seeufer, wieder ein Wald. Vielleicht ist es sogar derselbe Ort. Vielleicht sind es sogar dieselben Worte, die die Menschen sagen, die gleichen Gesten, die sie machen.
Die Menschen erzählen nicht ihre Lebensgeschichte, sondern sie wiederholen ihre Lebensgeschichte. Sie scherzen nicht, sondern wiederholen ihre Scherze; sie berühren nicht, sondern wiederholen ihre Berührungen; sie küssen nicht, sondern wiederholen ihre Küsse. Auch der Andere, den die Menschen lieben wollen, ist nur eine Wiederholung ungezählter anderer, die sie früher lieben wollten. Auch die Lebensgeschichte des Anderen ist nur eine Wiederholung anderer Lebensgeschichten, seine Küsse die Wiederholung der Küsse anderer.
Das ist es auch, was das Wort Sex meint: dass das, was zuvor unlösbar verbunden gewesen war mit einer Person, sich gelöst hat von allen Personen und zu einer wiederholbaren Tätigkeit geworden ist. Die Menschen sagen: »Wir hatten Sex.« Das bedeutet: »Wir haben miteinander das wiederholt, was wir schon mit unzähligen anderen getan haben, was also zu sogenanntem Sex geworden ist.«
[273] Die freien Menschen werden sich selbst in der Liebe unerträglich bekannt, weil sie die Liebe und die Liebesversuche auf ihrer unendlichen Suche unendlich oft wiederholt haben. Sie schämen sich ihrer Worte und Berührungen, ihres Körpers und sogar ihrer Lust, weil sie sie als Wiederholtes und Wiederholbares haben erfahren müssen.
Wenn die Menschen sich bewusst machen, welchen Typ Frau oder Mann sie haben, um besser suchen und wählen zu können, so kritisiert ihr Bewusstsein alle ihre Wahlen eben als stumpfe Wiederholung ihres Typs . Die Menschen denken: »Ich habe den Anderen nur deshalb gewählt, weil er mein Typ ist. Das ist oberflächlich. Alles, was mich anspricht, ist in Wahrheit ein Beweis meiner Oberflächlichkeit.«
Die Menschen denken: »Ich habe alles Lebendige verdinglicht. Ich suche nur noch nach Merkmalen, nicht mehr nach Menschen.«
Bei ihren Entdeckungsmenschen, in der Zeit vor allen Wiederholungen, hatten die Menschen noch kein Bewusstsein ihres Typs. Alle Merkmale waren identisch mit dem Geliebten, untrennbar mit ihm und nur mit ihm verbunden. Als Merkmale existierten sie im Bewusstsein nicht. Der Andere zerfiel nicht in Körper und Beruf, ein Gesicht und viele Interessen, Frisur und Biografie, eine Wohnung und ein Zukunftsversprechen. Er war ein Ganzes, er trug einen Namen. Erst die Wiederholung hat das Ganze zerschlagen, es in Merkmale zerlegt, die Wiederholung von Merkmalen: schon wieder eine Schwarze, ein Dünner, eine Ärztin, ein Künstler.
Der Ablauf jeder Begegnung erscheint den Menschen nun als automatisch und neurotisch. Wenn sie von sich selbst erzählen, werfen sie sich narzisstische Selbstdarstellung vor. Denn mit der Zeit, durch die Wiederholung der Begegnungen, ist ihnen ihr Erzählen als sogenannte Selbstdarstellung bewusst [274] geworden, als ihre Masche. Auch den Entdeckungsmenschen hatten sie damals ihre Vorzüge gezeigt. Doch sie taten es ohne Bewusstsein, in Unschuld. Jetzt dagegen wissen sie genau, was sie tun. Sie denken: »Ich zähle gerade meine Vorzüge auf. Ich bin eine Litfaßsäule.«
Jetzt sind auch sie selbst – in ihrem Bewusstsein – in Merkmale zerfallen, in ihren Körper und ihren Beruf, ihr Gesicht und ihre Interessen, ihre Frisur und ihre Vita, ihre Wohnung und ihr Zukunftsversprechen. Jetzt sagt ihr Bewusstsein: »Du präsentierst das alles, weil du
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