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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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schämen sich auch ihrer Nacktheit. Denn sie haben auch ihre Nacktheit benutzt und verändert, zu etwas Künstlichem gemacht. Wieder und wieder haben sie ihren Körper willentlich eingesetzt, um damit zu verführen, haben ihn trainiert und optimiert, zu einer Wiederholung, einem Klischee gemacht, zu einer Kopie anderer Körper, des Körperideals. Sie sind aus ihrem Körper herausgefallen und hineingefallen in ihre Körpermöglichkeiten. Sie irren in ihren Körpermöglichkeiten jetzt körperlos herum.
    Sie haben gemeint, durch das Training und die Aufmerksamkeit, die sie ihrem Körper gewidmet haben, immer mehr Körper zu bekommen; tatsächlich ist ihr Körper verschwunden. Sie haben die Möglichkeit der Nacktheit unwiederbringlich verloren. Der Körper, »wie Gott ihn schuf«, existiert nicht mehr. Die Menschen haben aus ihrem Körper ein Kleidungsstück gemacht, und sie schämen sich dieses Kleidungsstücks, wie der gefallene Paradiesmensch sich seiner Nacktheit geschämt hat. Es will ihnen scheinen, als sei ihr Körper ein exzentrischer, von der Mode längst überholter Anzug. Sie haben ihn schon zu oft getragen, schon zu oft ihren Auftritt in ihm gehabt. Sie würden gerne einen neuen, schlichten Anzug tragen, einen neuen, endlich wieder ursprünglichen Körper. Doch ein solcher steht ihnen nicht zur Verfügung.
    [270] Das Bewusstsein erkennt nur deshalb so überdeutlich die Unmöglichkeit der Nacktheit, die Muster und Mechanismen, weil die freien Menschen sich endlos wiederholen .
    Eine gewisse Anzahl von Wiederholungen ist immer notwendig, damit das Bewusstsein etwas als Tatsache begreifen kann. Als Charakter eines Menschen gilt nur das, was er immer wieder tut – nicht, was er einmal (im Affekt) tut und dann nie wieder (tun würde). Als Schule gilt nur, was jeden Tag eine Schule ist – und nicht am nächsten Tag ein Flohmarkt. Als Kapitalismus gilt nicht die einmalige, nur die wiederholte Produktion von Dingen um des Profits willen. Alles, was im Bewusstsein ist, ist die Wiederholung von etwas. Alles, was erkannt wird, wird erkannt als Wiederholtes.
    Ein einmaliges, nie zuvor dagewesenes und niemals sich wiederholendes geschichtliches Ereignis, dessen Charakter die Menschen erkennen wollen, müssen sie umso häufiger im Bewusstsein wiederholen – in der Erinnerung, den Medien, in der Wissenschaft, der Literatur und Kunst. Es bleibt nur dann im Bewusstsein, wenn es schockierend, traumatisierend ist, also im Bewusstsein seine eigene Wiederholung erzwingt. Unterhalb dieser Schwelle wird das Einmalige vergessen.
    Das Bewusstsein einer Tatsache wächst also umso mehr, je häufiger sich die Tatsache in der Welt (und im Bewusstsein) wiederholt. So entsteht das endlose Bewusstsein der freien Menschen auch aus der endlosen Wiederholung ihrer Aktivitäten.
    Denn fast alles, was die freien Menschen tun, tun sie immer wieder . Sie können mit nichts, was sie tun, mehr aufhören. Alles wird ihnen zur Gewohnheit, zur Sucht. Sie sind permanent in Wiederholungsgefahr, unterliegen einem Wiederholungszwang, weil sie nichts mehr zwingt, mit etwas aufzuhören.
    [271] In einer totalen Unfreiheit wiederholten die Menschen sich endlos, weil die herrschende Macht sie nichts anderes tun ließ, weil die Diktatur einer Regierung oder einer Moral ihr Leben in engen Bahnen hielt, sie immerzu im Kreis einer Ordnung führte.
    In der totalen Freiheit wiederholen sich die Menschen aber ebenfalls endlos – weil keine Macht, keine äußere und keine innere, sie bewegt, das Eine zu beenden, mit dem Anderen anzufangen.
    Die freien Menschen leiden also auch deshalb unter einer unnatürlichen Vergrößerung ihres Bewusstseins, einer Bewusstseinshypertrophie, weil sie sich endlos wiederholen, weil ihre Freiheit sie zur unendlichen Wiederholung ihrer selbst verdammt. Sie sagen: »Es ist schrecklich. Seit Jahren tue ich immer nur dasselbe. Ich gebe meinen Schwächen nach, folge meinen Gewohnheiten. Ich kann nicht damit aufhören.« Als Selbstwissenschaftler und Selbstkünstler wollen sie alle Selbstwiederholung vermeiden. Das freie Bewusstsein ist identisch mit der Forderung, sich niemals zu wiederholen. Doch die freien Menschen, die sich permanent überschreiten wollen, leiden jeden Tag darunter, dass sie sich im Gegenteil ständig selbst wiederholen.
    Andererseits erblicken sie ihre Freiheit ausgerechnet in der Freiheit zur Selbstwiederholung, wollen sie überhaupt nicht loskommen davon. Sie wollen niemals eine endgültige Entscheidung treffen,

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