Das Ende der Liebe
Mobilität haben das Risiko der [21] Scheidung erhöht. Die Forscher schreiben: »Die Ergebnisse zeigen an, dass viele Menschen ihre Partnersuche heute fortsetzen, während sie verheiratet sind, und dass die Häufigkeit der Partneralternativen, wie sie aus der Struktur der Gesellschaft hervorgeht, signifikant das Risiko der Scheidung beeinflusst.«
Partnersuche führte einmal zu Partnerschaften. Heute ist sie der wichtigste Trennungsgrund. Dabei muss der Suchende nicht einmal suchen. Die Häufigkeit der Partneralternativen geht nicht aus seinem Handeln hervor, aus seiner Suche, sondern aus der Struktur der Gesellschaft.
Der Suchende braucht kein Suchwerkzeug mehr. Er muss nicht einmal seinen Körper, seinen Geist benutzen. Er kann warten. Die Gesellschaft selbst ist heute eine Suchmaschine. Die Gesellschaft ist in Bewegung. Sie dreht sich unter den Augen der Menschen wie ein Globus. Sie zeigt ihre Möglichkeiten.
Nie zuvor in der Geschichte waren Liebeshoffnung und Liebeserwartung der Menschen so groß. Nie zuvor war das Glück, das sie ersehnten und suchten, so weitgehend deckungsgleich mit Liebesglück. Die Epoche der romantischen Liebe ist nicht Vergangenheit, sondern – gemessen an ihren Bedingungen – angelangt auf ihrem Höhepunkt.
Die Voraussetzungen für die Liebe scheinen besser denn je. Die Menschen begegnen immer mehr Menschen. Sie sind frei, zu wählen. Sie wissen, was sie wollen. Kein gesellschaftlicher oder kultureller Unterschied scheint für die Liebe noch ein Hindernis aufzurichten. Nicht nur die Männer, auch die Frauen leben ihre sexuellen Bedürfnisse frei aus. Die gewerbsmäßige, zur Industrie gewachsene Partnervermittlung über das Internet erzeugt eine größtmögliche Auswahl von Sex- und Lebenspartnern, ermöglicht eine maschinelle, computergestützte [22] Suche. Die Idee der Liebe wird durch keine andere Idee, keine Struktur mehr beschränkt. Sie ist absolut, unbegrenzt. Die Liebe verschwindet im Moment ihres historischen Triumphes.
Therapien scheitern. Psychologen sprechen von Traumata, Neurosen, Depressionen. Sie halten sich an die Turbulenz der Lebensgeschichten, nicht an die Turbulenz der Geschichte. Sie halten die neue Art nicht zu lieben für die alte: für eine Krankheit des Herzens, des Gemüts. Sie sehen nicht, dass die neue Nichtliebe auf einer allgemeinen Erfahrung beruht, einer gesellschaftlichen Erfahrung und Idee. Sie ist keine Gemüts-, sondern eine Geisteskrankheit – und der Wahnsinn der Menschen ist ihr Wirklichkeitssinn . Je mehr Wirklichkeit einer aufnimmt, je tiefer seine Verwurzelung in der Wirklichkeit, umso ärger die Symptome.
So ist es nur folgerichtig, dass die Menschen, von denen hier die Rede ist, keineswegs bloß junge Menschen sind; dass ihre Nichtliebe sich mit der Zeit, der Erfahrung nicht verliert. Im Gegenteil, sie wächst mit der Zeit, der Erfahrung. Je älter die Menschen sind, desto erfahrener, also unreifer werden sie.
Eine Frau ist sehr nervös. Wenn sie sich mit einem Freund in einem Café unterhält, blickt sie ständig nach links und rechts. Sie macht in einem fort neue Bekanntschaften und fällt kurz darauf in eine Art Depression. Sie kann immer Gründe anführen, warum der Mann, den sie gerade kennen gelernt hat, nicht der Richtige sei, ohne diesen Gründen selbst zu trauen. Sie fragt also einen Freund, was er davon halte. Ihre letzte Verliebtheit liegt nun fünf Jahre zurück. Die Frau ist neununddreißig Jahre alt. Sie sagt, die Männer, jedenfalls die klugen, hätten sich die Männlichkeit verboten. Einmal war sie beinah euphorisch, als sie einen Mann kennen gelernt [23] hatte, der für eine Filmproduktionsfirma arbeitete und der, wie sie sagte, erotisch war. Zwei Wochen später war sie wieder enttäuscht. Er sage immerzu Heiner Werner Fassbinder und kenne vom Film nur die Logistik. Nach dem Kino beschwere er sich entweder, der Film habe zu wenig Handlung, oder, der Film habe zu wenig Dialog. (»Oder ist meine Irritation da übertrieben? Was denkst du?«) Beim Sex sei er komisch, jedenfalls anders, als sie sich das vorstelle; anders auch als der Mann, mit dem sie einst das Erwachen ihrer Sexualität erlebt habe und der noch immer »der Maßstab« sei. Schließlich sei sie einem Kollegen des Mannes begegnet, der sei umwerfend gewesen, schon rein äußerlich.
Die Frau denkt über ihre Gefühle nach und findet einiges an ihnen auszusetzen. Sie findet ihre Gefühle – ja, irrational . Unrealistisch, beleidigend billig. Den Einwand,
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