Harry Dresden 09: Weiße Nächte
1. Kapitel
V iele Dinge sind nicht, wie sie scheinen: Die schlimmsten Dinge im Leben sind das niemals.
Ich lenkte meinen schlachtenerprobten, bunten, alten Käfer in Richtung eines heruntergekommenen Wohngebäudes in Chicago, der keine fünf Blocks von meiner eigenen Kellermietwohnung entfernt war. Normalerweise geht es ganz schön hektisch zu, wenn mich die Cops erst einmal hinzugezogen haben; es gibt mindestens eine Leiche, mehrere Autos, eine ganze Menge blinkender blauer Einsatzlichter, gelb-schwarzes Absperrband und Presseheinis – oder zumindest die Vorahnung, dass diese in naher Zukunft auf der Bildfläche erscheinen würden.
Dieser Tatort war völlig ruhig. Ich konnte keine Streifen- und nur einen einzigen Krankenwagen ausmachen, der mit abgeblendeten Lichtern abgestellt war. Eine junge Mutter schlenderte an mir vorbei, einen Sprössling im Kinderwagen, während der andere unsicher an der Hand seiner Mutter an mir vorbeizuckelte. Ein älterer Herr führte seinen Labrador an meinem Auto vorbei Gassi. Niemand gammelte einfach nur herum, um neugierig zu glotzen oder sonst irgendetwas Ungewöhnliches zu tun.
Verrückt.
Doch auch wenn es mitten an einem sonnigen Nachmittag im Mai war, kroch mir ein Schauer den Nacken empor. Normalerweise begann ich ja erst, die Nerven zu verlieren, wenn ich irgendeinem Ding, das einem Alptraum entsprungen sein mochte, dabei zusehen musste, wie es sich auf viel zu anschauliche Weise anschickte, etwas Mörderisches zu unternehmen.
Ich schob das Ganze auf die Paranoia, die mein fortgeschrittenes Alter mit sich brachte. Zugegeben, ich war wirklich nicht besonders alt, vor allem nicht für einen Magier, aber das Alter schritt nun einmal unaufhaltsam voran, und ich hegte den Verdacht, es führte nichts Gutes im Schilde.
Ich parkte den Käfer und betrat den Wohnblock. Ich erstieg mehrere Treppen. Die Fliesen an den Wänden hätten dringend einer Renovierung bedurft oder zumindest einmal ordentlich gewienert werden müssen. Ich ließ das Treppenhaus hinter mir und fand mich in einem Gang wieder, dessen graublauer Teppich dermaßen abgetreten war, dass sich eine speckig glänzende, platt gewalzte Fläche in der Mitte gebildet hatte. Die Türen zu den einzelnen Wohnungen waren schon ordentlich mitgenommen und alt, doch sie bestanden dennoch aus massivem Eichenholz. Murphy wartete schon auf mich.
Murphy war knapp über eins fünfzig, brachte kaum fünfzig Kilo auf die Waage und wirkte nicht gerade wie ein zäher Bulle aus Chicago, der Monster und Durchgeknallte mit Nerven aus Stahl in Grund und Boden starren konnte. Knallharte Bräute wie sie sollten einfach keine Blondinen mit süßem Näschen sein. Manchmal beschlich mich der Verdacht, Murphy sei nur ein knallharter Cop geworden, um die Inkonsequenz des Universums zu beweisen – egal, wie himmelblau ihre Augen blitzten oder wie harmlos sie auf den ersten Blick erschien, nichts konnte den Stahl in ihrem Wesen verbergen. Sie bedachte mich mit einem Wir-arbeiten-hier-Nicken und einem knappen Gruß. „Dresden.“
„Lieutenant Murphy“, murmelte ich gedehnt und verbeugte mich mit einem manieriert ausgestreckten Arm, völlig im Gegensatz zu ihrem schroffen Empfang. Ich tat das nicht im Mindesten, um die Inkonsequenz des Universums zu beweisen. So war ich nicht. „Ein weiteres Mal bin ich von Eurer Anwesenheit nahezu geblendet.“
Eigentlich hatte ich ein verächtliches Schnauben erwartet. Stattdessen warf sie mir schwach ein gezwungenes, höfliches Lächeln zu und verbesserte mich sanft: „Sergeant Murphy.“
Fettnäpfchen auf, Fuß rein. Großartig, Harry! Die Anfangsmelodie dieses Falles war noch nicht einmal verklungen, und schon hatte ich Murphy daran erinnert, was es bedeutete, meine Freundin und Verbündete zu sein.
Murphy war einst ein Detective Lieutenant der Sondereinheit der Polizei von Chicago gewesen. Diese war die Antwort der Polizei auf alle Probleme, die man nicht mit ruhigem Gewissen in die Kategorie „normal“ einreihen konnte. Falls ein Vampir einen Durchreisenden abschlachtete, ein Ghul einen Nachtwächter auf dem Friedhof abmurkste oder eine Fee jemanden verfluchte, worauf sein Haar nach innen statt außen zu wachsen begann, musste irgendjemand diesen Umtrieben auf den Grund gehen. Jemand musste sich der Sache annehmen und der Regierung und all den braven Bürgern da draußen versichern, die Welt gehe ihren geordneten, normalen Gang. Es war ein undankbarer Job, aber die Sondereinheit verrichtete ihn durch
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